Mein Glueck
lieferten die Fotos, die ich beim ersten Besuch in der Wohnung in Neuilly entdeckte. Sie hielten sich schleichend verändernde geometrische Formen fest, die an der Konstanz einer Erscheinung zweifeln ließen. In winzigen Trippelschritten wurde ein unscheinbares topographisches Motiv vermessen. Diese geringfügige Evokation der Außenwelt war etwas wie das Manifest eines Schriftstellers, der seine Karriere als Mann der Präzision, als Geometer, begonnen hatte. Erst die Beschreibung unspektakulärer Veränderungen in der Umwelt gestattet es ihm, in Der Augenzeuge (1957) oder Die Jalousie oder die Eifersucht (1959) seine dramatischen Schlüsse zu ziehen.
Diese Schlüsse sind es, die ihn wie seine Mitstreiter in die Tradition Flauberts stellen. In Flauberts Umkreis nimmt das Vertrauen in die Intelligibilität der Welt und in die Einschätzung von Dingen und Charakteren ab: »Erzählen im eigentlichen Sinne des Wortes ist unmöglich geworden.« Die langen Einstellungen im Film, die schleppend einlullende Sprache von Delphine Seyrig bringen eine Art schmerzender Überwirklichkeit zustande, die dafür sorgt, die Realität der Vögel, der Personen, der Häuser, auf die wir stoßen, in gewisser Weise zu übersehen. Im veristischen Surrealismus eines Magritte erreicht solche Vereinzelung eine vergleichbare Intensität. Sicher, ich entdeckte, dass in diesem glazialen Film nicht alles aufs Konto von Robbe-Grillet und Alain Resnais ging. Dahinter steckte »L’inhumaine« von Marcel l’Herbier, in dem eine große Sängerin in totaler Zurückweisung ihrer Umgebung agiert. Zu den Filmen, die in die Zeit der Nouvelle Vague wie Robbe-Grillets »Marienbad« an den Rändern des Surrealistischen bleiben, gehörten damals Georges Franjus Neufassung von Feuillades »Judex« und vor allem das erschreckende, mit kruden Details der Transplantation und der Schönheitsoperation spielende »Augen ohne Gesicht«. Schon der Titel »Les yeux sans visage« ließ an Max Ernsts La femme 100 têtes denken. Stärker als hier oder in der Tanzszene der Vogelmasken in »Judex« hat sich der französische Nachkriegsfilm nicht vom gothic novel, von den Collageromanen Max Ernsts oder von Schœdsacks »The most dangerous game« genährt. Um sich Franju zu nähern, musste man in den Nummern der Zeitschrift Documents blättern, die Georges Bataille und Michel Leiris in den dreißiger Jahren herausgegeben haben. Für Franjus grausamen Kurzfilm »Le sang des bêtes«, der Aufnahmen in einem Pariser Schlachthof mit dem idyllischen Leben von Schlächtern, Liebespaaren und dem Singsang von Kinderreigen verbindet, konnte man auf diesen Seiten die Vorbilder finden, die von chinesischen Pfählungen bis zu Eli Lotars Aufnahmen vom Schlachthaus in La Villette reichen. Ich erfuhr damals, dass Breton Robbe-Grillets Offerte, ihm »L’année dernière à Marienbad« zu widmen, entrüstet zurückgewiesen hatte. Er soll diesen Film richtiggehend gehasst haben. Sicherlich spürte Breton, dass Robbe-Grillets Fabrikation einer mit den Mitteln der Logik zustande gebrachten Irrealität nichts mit der zu tun hatte, für die er sich selbst einsetzte. Bei Breton blieb bei aller Aufklärung doch immer ein spiritistischer Rest wirksam, der ihn dazu aufforderte, den Positivismus mit den Experimenten zu bekämpfen, die ihm eigene unerklärliche Erlebnisse lieferten. Von solchen Phantomen des Exogenen lebt nicht zuletzt Nadja . Mir bedeutet es heute im nachhinein sehr viel, dass Philippe Sollers, der damals in Paris die Zeitschrift Tel Quel ins Leben gerufen hatte, mir beim ersten Treffen in ein Exemplar seines Romans Le Parc die Widmung hineinschrieb: »Diese Versammlung im Park, ohne Psychologie.«
Erst nach und nach verstand ich diesen Satz, der in kürzester Form ein ganzes Programm enthält. Er resümierte ganz konzentriert, was ich in der zeitgenössischen Literatur und Kunst noch unsystematisch, vage suchte: die Ablehnung der kanonisierten Antwort. Dies war für mich sicherlich die wichtigste Entdeckung bei der Begegnung in der damaligen Pariser Szene. Für einen jungen Deutschen sorgte die Lektüre solcher Texte für eine Tabula rasa, sie erschien geradezu als eine ethische Richtlinie. Doch muss ich korrigierend ergänzen, nicht eine Tabula rasa, die von Geschichte und geschichtlicher Verantwortung ablenken wollte, sondern die sich dergestalt auf die Sprache und auf das Bild konzentrierte, dass diese als etwas Neues erschienen und zu endlosen Fragen aufriefen. Ich weiß, dass
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