Mein Glueck
Nouveau Roman eine Schlagkraft, die die sogenannte engagierte Literatur, die damals in aller Munde war, als pures Lippenbekenntnis erscheinen ließ.
Lindon verstand meine Frage nach Texten für das Hörspiel, einer Literaturgattung, die in Frankreich nicht bekannt war, sofort und nahm rege an den Diskussionen teil. Und in der Tat wurde sein Interesse für die Autoren des Verlages und mit der Zeit auch für den Verlag selber wichtig. Für eine Zusammenarbeit schlug er, so wie ich es erhofft hatte, Beckett vor und erinnerte in diesem Zusammenhang an dessen Zusammenarbeit mit der BBC. Dann führte er mich im schmalen Haus, der Nummer sieben der kurzen Rue Bernard Palissy, einen Stock tiefer zu Alain Robbe-Grillet, der dort sein Büro hatte und vom Zwischengeschoss aus den Zugang zum großen Verleger überwachte. Er agierte im Zentrum des Nouveau Roman als Lektor und als literarischer Berater. Diese Funktion machte aus ihm so etwas wie einen Marlowe oder Nero Wolfe der literarischen Fälle der Zeit und passte zum Umgang mit dem Forensischen, das er in eigenen Büchern thematisierte und das auch in denen Becketts, Butors, Sarrautes oder Pingets auffallend in den Vordergrund tritt. Bei ihnen führte das Hörspiel zu einer Überschreitung des Romans, zum Übergang von der skeptischen, deskriptiven Prosa zum Dialog. Es ging in diesen für sie ungewohnten Stücken darum, den »Argwohn« der Prosa in den Dialog, der sich so viel weniger umkleiden ließ, zu retten.
Eine der umfangreichsten Arbeiten, die als Stuttgarter Auftragsarbeit entstanden, ist Robert Pingets »Monsieur Mortin«. Es setzt die Möglichkeiten des Funks auf neue Weise ein. Dazu gehört zunächst das Motiv. Im ersten Teil beschreibt der Erzähler etwas, was nur er sieht, und übernimmt damit das Modell des auktorialen Schreibens ins Hörspiel. Das Neue besteht in der seriellen Erweiterung des Dialogs, die alles doppeldeutig und unsicher macht. Es gibt einen Frager und – unabhängig voneinander – acht Befragte. In einem Vorwort zu seinem Roman Le Libera ( Befreie uns ) nimmt Pinget Bezug auf seine Arbeit fürs Hörspiel und erklärt dieses geradezu als Gegenstück zu der weit verbreiteten Definition des Nouveau Roman als einer Schule des Blicks. Pinget schreibt: »Das Ohr stellt ebenso tyrannische Forderungen« und »Unser Ohr ist ein ebenso starkes Aufnahmegerät wie unser Auge«.
Gab es für diese Zeit stimmigere Buchtitel als Nathalie Sarrautes Das Zeitalter des Argwohns oder Robbe-Grillets Les Gommes ? Überall geht es um Verdächtigung und Spuren. Und nichts unterstreicht stärker als die Verwendung kriminalistischer Motive und Aufgaben, dass es dabei allenfalls um Phantome der Gewissheit gehen kann. Auch Daniel Boulangers » Die Reise nach Maronne« , das der Stuttgarter Rundfunk im Oktober 1964 senden konnte, gehört dazu. Nirgendwo wird etwas aufgedeckt. Im Gegenteil, meinte Robbe-Grillet. Ihm komme es darauf an, das Geheimnis zu verdichten, so undurchdringlich wie möglich zu machen. Das Spiel mit der Entlarvung, der Verdacht, der sich bei Nathalie Sarraute wie Mehltau auch über die einnehmendste, glaubwürdigste Aussage legt, erscheinen als Persiflage einer zum Leerlauf und zur Erfolglosigkeit verdammten metaphysischen Suche. Robbe-Grillets Hinweis auf den Radiergummi verweist auf die weißen Flecken, die zwischen Mord und Indizien zu finden sind. Es ist deshalb bezeichnend, dass sich Robbe-Grillet immer wieder dem Film zuwandte. Als er 1962 von den Dreharbeiten an » L’Immortelle« aus der Türkei zurückkehrte, meint er, in diesem Film, der auf Autosuggestion beruhe, habe er den Dialog noch wesentlich stärker eingeschränkt als in »Marienbad«. Während in »Marienbad« die Dialoge nur fünfundvierzig Minuten dauerten, habe er diese Zeit im neuen Film auf fünfzehn Minuten beschränkt. Die Annäherung an den Stummfilm war spürbar. Etwas von der Visualisierung, die im Film das gesprochene Wort nahezu ausschließt, finden wir in den Romanen. Die Beschreibung bleibt an einem Gegenstand stecken, erstickt richtiggehend an ihm. Die Wirkung ähnelt der einer Nadel auf einer defekten Schallplatte, die unentwegt in die gleiche Rille zurückfällt. Diese Eigenschaft zeichnet die Prosa Robbe-Grillets am stärksten aus. Im Gespräch kam er auf den Surrealismus. Das war damals eine kaum benutzte Referenz. Und innerhalb des Surrealismus war es das Spiel mit der kleinen Abweichung, die sich seriell fortsetzte, die ihn interessierte. Das beste Beispiel
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