Mein Glueck
der ihm selbst für sein Ende genügte. Das kleine Fenster war die allerletzte Verkleidung von Berkeleys »esse est percipi« – der Hinweis auf ein verschwindendes Dasein, das sich nur deshalb erlebt, weil es sich in einem verlöschenden Licht mit seinen Sinnen selbst sieht.
Von außen betrachtet, hätte man Beckett und Bram van Velde für ein Bruderpaar oder für reziproke Doppelgänger halten können. Dieselbe schlanke Gestalt, elastisch, beim Gehen die messerscharfen Silhouetten in den Raum greifend, die Bewegungen nicht gerundet, eher abrupt. Nichts Expandierendes. Sie wirkten stolz und unabhängig von anderen Menschen. Die Köpfe der Freunde waren beide wie aus einem Stück herausgeschnitten, von tiefen Furchen durchpflügt. Man hätte meinen können, Giacometti habe sie überarbeitet. In den Gesichtern stand beunruhigend das metallene Blau der Augen. Der Dichter und der Maler. Dies zu erleben war für mich in der Folge bedeutungsvoll. Die Feststellung, dass sich Beckett für Kunst interessierte und die Brüder van Velde, Hayden oder Avigdor Arikha zu seinen Freunden zählte, gab mir zu denken. Es war nicht so sehr die Beobachtung, dass sich Beckett gerade diesen Künstlern zuwandte, sondern die Erfahrung, dass zunächst hermetisch wirkende Werke, wie diejenigen der Brüder van Velde, vor dem Hintergrund eines Kommentars, eines bedeutenden, literarischen Textes einen Inhalt, eine Ikonographie erhalten konnten. Die Bilder fraßen sich in die Texte ein, waren untrennbar mit ihnen verbunden. Sie hingen gewissermaßen am Tropf. Ponge, Malraux und Fautrier, Bazaine und Tardieu – diese Zentauren galoppierten zu Dutzenden durch die École de Paris. Bei diesen Begegnungen, hinter denen eine Art zeitgenössisches Horaz’sches »Ut pictura poesis« steckte, hatte ich Glück. Der Umgang mit Texten, Prosagedichten zur zeitgenössischen Malerei war etwas völlig Neues für mich. Hier traf ich auf eine Liaison von Dichtung und Bild, für die die französische Literatur einzigartige Vorbilder aufzuweisen hatte. Ja, ich stellte mir mehr und mehr die Frage, ob diese Loslösung, diese Befreiung vom Gegenständlichen in der jüngsten Malerei nicht letztlich daher rührte, dass die Schreibenden dies ermöglicht hatten. Doch der Gewinn für die Literatur war nicht weniger wichtig. Nirgends kommt die Fähigkeit der Sprache stärker zum Ausdruck als dort, wo sich der Dichter die Haut der Malerei überstülpt und aus deren Innerem, nur notdürftig vom Pigment der Bilder bedeckt, den Betrachter zur Rede stellt, zum Leser macht. Dort, wo sich die Malerei gewissermaßen selbst entblößt hat, kann sich der Text niederlassen.
Die Malerei erschien mir dabei wie eine Montgolfiere, der man nach und nach die Taue kappt, damit sie vom Boden abheben kann. Die Maler wussten, dass sie nicht allein waren, sie rechneten damit, von einem subtilen Kommentar begleitet zu werden. Vor allem der Umgang mit Francis Ponge, Henri Michaux, Michel Butor und Jean Tardieu öffnete mir Türen. Einige hatte ich direkt angesprochen, mit anderen machte man mich bekannt. Michel Leiris brachte mich erstmals im Mai 1962 mit Michel Butor zusammen. Butors Wissbegierde und Hinwendung zu allem, was ihm auffiel, erinnerte mich an Barthes.
Am meisten beeindruckte mich bei Michel Butor seine Erregung durch die Simultaneität. »Passage de Milan«, »Fluglinien« oder »6.810.000 litres d’eau par seconde« hielten mich in Atem. Schnell sorgte ich dafür, dass ich bei Suhrkamp zwei Bändchen mit Übersetzungen einer Auswahl von Texten zur Kunst von Ponge und Tardieu veröffentlichen durfte. Die Aufgabe teilte ich mir mit Gerhard M. Neumann. Der kleine Band von Jean Tardieu erschien bei Suhrkamp unter dem Titel Mein imaginäres Museum . Tardieu war diese Evokation der berühmten Formulierung Malraux’ peinlich. Er schrieb ihm dies auch. Doch Malraux hatte überhaupt keine Einwendungen.
Man macht sich heute kaum mehr eine Vorstellung von der Gewalt, mit der die informelle und ungegenständliche Kunst damals den Betrieb bestimmte. In vielen Kreisen war dies das einzige Thema. Zu den wichtigsten Adressen in Paris zählten Ende der fünfziger und während der sechziger Jahre die Galerie de France und die Galerie von Denise René. Zwischen diesen beiden Häusern wurden erbitterte Auseinandersetzungen geführt. Sie waren wie Feuer und Wasser. Auf der einen Seite ging es bei Myriam Prévot und Gildo Caputo um den Kampf für eine unbeschränkte Subjektivität. Im Umkreis der
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