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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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plötzlich furchtbar traurig wurde. Er hatte das Gefühl, dass ihn niemand verstand, dass niemand mitbekam, dass es sich um ein Stück handelte, in dem er dadurch, dass er die Stimme vom Körper trennt, zu seiner frühen Faszination durch den kartesianischen Dualismus zurückkehrt. Alle redeten ihm ein, es würde so alles besser werden und man wolle nur, dass das Stück von allen Menschen verstanden und geliebt werde. Er saß da wie der Schuldige. Diese Szene war unerträglich. Beckett hörte sich alles an, blieb reglos und stumm. Die Flüsterstimme sei unhörbar! Er schüttelte entschieden den Kopf und meinte: »Ich verstehe diese Argumente, aber ich möchte es trotzdem so haben.« Offensichtlich hatte er den Eindruck, dass niemand verstand, dass die Stimme nur im Kopf von Joe flüstert und dass dieser diese Frau, die ihn mit ihren bösen Erinnerungen reizt und aufstachelt, töten möchte. Beckett ließ sich schließlich weichklopfen und zu dem Versuch überreden, den Text in leiser Sprechstimme zu rezitieren. Das funktionierte nicht. Das sah nun jeder ein. Und es ging mit dem Flüstern weiter. Die Tortur setzte sich fort, schließlich, gewissermaßen zum Schlusspfiff, gelang eine fehlerlose Aufnahme. Nach zwei Wochen waren alle überreizt, körperlich und geistig erschöpft. Im nachhinein habe ich den Eindruck, dieser betäubte, weggetretene Zustand, in den die ermüdenden Wiederholungen Schauspieler, Kameraleute, Toningenieure und Beleuchter versetzt hatte, sei intendiert gewesen, um die besondere Wirkung der Aufnahme zu erzielen.

    Horst Ehmke, Max Ernst, Willy Brandt, Werner Spies und Peter Schamoni

    Mit Rührung lese ich, was mir Beckett in späten Tagen, da er das Schreiben fast aufgegeben hatte, übermittelte: »Wie gerne würde ich wieder etwas für Stuttgart machen.« Ganz in der Nähe, einige Gehminuten von der Wohnung am Boulevard Saint-Jacques und von dieser »Allée Samuel Beckett«, liegt das Altersheim »Le Tiers Temps«, ein schmuckloser Bau mit dreiundfünfzig Betten. Dort, in der Rue Rémy Dumoncel, verbrachte Beckett seine letzten Monate, in einer sinisteren, einsamen Szenerie, die er zuvor für Endspiel oder He Joe selbst entworfen hatte. Er wanderte anfangs noch zwischen der Wohnung am Boulevard Saint-Jacques und dem überaus dürftigen Heim hin und her und holte auch seine Post zu Hause ab. Doch nach dem Tode Suzannes, einige Monate bevor er selbst starb, verließ er »Le Tiers Temps« nicht mehr. Bis zu seinem Tode hatte ich das Glück, mit ihm in Kontakt zu bleiben. Ich hatte vorgeschlagen, bei ihm vorbeizukommen. Von dort schickte er mir seinen letzten Brief. In einer wunderbar klaren Schrift antwortete er, wie immer postwendend: »Cher Werner. Merci de ton mot. Je suis dans une maison de retraite (la 3ème). Je suis un traitement qui fera du bien (paraît-il). Je ne te propose pas une rencontre en attendant. Je t’appellerai un de ces jours. Affectueusement Sam.« (»Lieber Werner. Danke für Deine Worte. Ich bin in einem Seniorenheim [das dritte]. Ich bekomme eine Behandlung, die mir gut tun wird [sagen sie]. Ich schlage Dir vorerst kein Treffen vor. Ich rufe Dich die Tage an. Dein Sam.«)
    Die Wendung »paraît-il« forderte auf, dies alles leichtzunehmen oder einfach nicht zu glauben. Das passte zu seinem beispiellosen Stoizismus. Becketts letzte Lektüre blieben die Tagebücher von Jules Renard. Einige Monate zuvor zitierte er mir daraus einen Satz, der ihn betroffen gemacht hatte: »Ich bin neidisch auf den Ruhm derer, die unbekannt sind.« – »J’envie la gloire de n’être pas connu.« Er meinte damals, ich solle das, was er gesagt habe, für mich behalten. Und dann hub er zu einem Lob der Schwäche an. In ihr, nicht in Stolz oder Hochmut, liege der Sinn des Lebens. Kurz zuvor hatte er noch, in Erwartung des baldigen Todes, einen winzigen Text, der im Vorjahr auf Englisch erschienen war, ins Französische übertragen. Wie immer ließ er mir ein Exemplar zukommen. Das schmale Heftchen ist im Oktober 1989 gedruckt worden, wenige Wochen bevor er starb. Es trug als Titel »Soubresauts« – »Zusammenzucken«, eben nicht »Auflehnung«. Es war die Beschreibung eines Körpers in einem fahlen Licht, das aus einem Fenster hoch oben an der Wand in den kleinen Raum fällt, durch ein Fenster, unter dem noch ein Schemel stand, von dem aus einst, ehe die Kräfte nachließen, um hinaufzusteigen, der Himmel zu sehen war. Es war die vorauseilende Beschreibung des kleinen, armseligen Raums,

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