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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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veröffentlichte das Bändchen Frottagen in Deutsch, Französisch und Englisch. Seine Frau Ursula lektorierte. Und was sie beanstandete, was sie zu ändern vorschlug, war so fabelhaft begründet, dass ich ihr überall recht geben musste und dabei für mein künftiges Schreiben einiges lernte. Sie war eine kluge und gebildete Frau, promovierte Kunsthistorikerin. Sie gehörte zu den vermögendsten Stuttgarterinnen, war aber offensichtlich nicht bereit, das Kapital des Verlags aufzustocken. Von nun an wohnte ich immer, wenn ich in Stuttgart war, bei ihnen in der Heidehofstraße. Ich blieb jedes Mal den Bettlaken treu, in denen offenbar nicht nur ich schlief. Die Abdrücke schufen im Laufe der Zeit auf dem Leintuch ein eindrucksvolles Äquivalent des Turiner Grabtuchs.
    Regelmäßig gab Max Ernst zu den wichtigen Episoden seines Lebens in eigenen Texten kurze, jedoch überaus präzise Hinweise. Dies gilt für die Entstehung seiner Collagen in Köln ebenso wie für Erfindung der Frottagen. Als ich eines Tages, nach dem Tode von Max, das Museum von Nantes besuchte, das damals für den Ankauf eines Bildes von Max Ernst kämpfte, bei dem dieser die Frottagetechnik auch in einem Ölbild auf Leinwand anwendete, schlug mir der Konservator Vincent Rousseau, der die Ausstellung einrichtete, vor, einen Ausflug ans Meer, ins nahe Pornic zu machen. Dort, im »Hôtel Saint Gilles«, hatte Max Ernst im Sommer 1925 einige Wochen verbracht. Er beschreibt in seinen biographischen Notizen die trostlose Atmosphäre an einem regnerischen Sonntag am Meer. Sonntage konnte er an sich nicht ausstehen. Er meinte, eines Tages habe er sich in Indochina im Urwald irgendwie unbehaglich gefühlt. Auf seine Frage, was das heute für ein Tag sei, habe der Reisegefährte »Sonntag« geantwortet und ihm sei alles klar gewesen. An genau so einem Sonntag in der südlichen Bretagne habe er lustlos auf den Boden seines Zimmers gestarrt. Beim Blick auf die ausgewaschenen Holzbohlen des Parketts habe er mit einem Schlag Figurationen und Kombinationen von Formen erkannt, die ihn zu den Frottagen anregten. Er sah die unterschiedlichsten Formen auftauchen. Die Mappe mit den vierunddreißig Blättern der »Histoire Naturelle« war das Resultat dieser Beschäftigung mit den Maserungen im hölzernen Fußboden und mit zahlreichen anderen taktilen Formen, zu denen Milchglas, Stiele von Kirschen, Kämme und manch anderes zählten. Wir waren voller Spannung, denn unsere Exkursion nach Pornic, ins »Hôtel Saint Gilles«, sollte uns helfen, etwas von dieser mythischen Begegnung zu rekonstruieren. Alle Zimmer waren besetzt, doch schließlich ließ sich der Besitzer, den wir auf den patrimonialen Stolz hinwiesen, den er als Herr dieses außergewöhnlichen Etablissement spüren müsse, dazu bewegen, uns in einen Raum eintreten zu lassen. In ihm residierte offensichtlich ein deutscher Tourist, Holzsandalen, der Geruch seiner Pomade und Sonnencreme ließen daran keinen Zweifel. Doch welche Enttäuschung, der Raum war mit einem Teppichboden ausgelegt, und der Hotelier wies stolz darauf hin, dass er vor wenigen Jahren das ganze Haus modernisieren lassen konnte. Aber wenn wir unter die Betten robbten, könnten wir sicherlich noch Spuren vom originalen Parkett entdecken. Wir krochen auf allen vieren in eine nicht gerade ambrosische Duftwelt und stießen hinten an der Wand auf braune Holzplanken. Von ihnen machten wir mit weichen Graphitstiften auf dünnem Papier Durchreibungen. Die Breite der Dielen stimmte mit den Maßen überein, die wir aus den Originalfrottagen kannten. Der Holzboden im Hotel mit seinen Maserungen – der Wald – war der Ausgangspunkt einer äußerst folgenreichen Phase im Werk von Max Ernst. Nicht von ungefähr gab er einem ersten Ölbild, das er mit der von der Frottage abgeleiteten Technik der Grattage erstellte, den Namen »Bretterwald«.
    So dürftig die Frottagen auch waren, die wir wie medizinische Abstriche vom Boden machten, zeigten sie uns doch, wie kontrastreich sich die konkaven und die konvexen Partien des Holzes auf dem Blatt abzeichneten. Zugleich wurde deutlich, dass hinter den fertigen Frottagen eine kaum überbietbare Präzision steckte. Denn diese waren alles andere als das Ergebnis einer spontanen »écriture automatique«. Wie mir Max Ernst anvertraute, entstanden die großen Blätter, die er für die Mappe »Histoire Naturelle« aussuchte, nicht an Ort und Stelle, sondern nach der Rückkehr aus den Ferien in Paris. Dort konnte er sich

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