Mein Glueck
erstanden und stellenweise mit einer Interlinearversion auf Französisch versehen hatte. Er tat dies, um seinem Bruder Jacques Villon die Hauptgedanken aus diesem überraschend konzeptuellen Buch nahezubringen. Der Aspekt des Immateriellen, auf den er bei Kandinsky stieß, interessierte Duchamp. Er ging mit Wörtern wie »Verzicht« und »Zufall« um, als wolle er diese auf ein Podest stellen. Das einzige, was in diesen Wochen, in denen wir uns im Atelier trafen, seinen Ärger hervorrief, war die achtteilige Serie »Vivre et laisser mourir ou la fin tragique de Marcel Duchamp« von Arroyo, Aillaud und Recalcati. Dieser in seinen Augen skandalöse Angriff, für den die Galerie Creuze ihre Wände zur Verfügung stellte, hatte ihn offensichtlich so tief getroffen, dass er bei jedem Besuch erneut mit diesem Thema anfing.
Es schmeichelte ihm, dass er in den USA seine Schüler gefunden hatte. Er äußerte sich überaus liebenswürdig über diese Gefolgschaft, aber auf die Bemerkung, dass diese sich auf sein Readymade bezögen, reagierte er mit äußerster Schärfe: »Heute hat dies eine andere Bedeutung. Die Übertreibung würde dies nur banalisieren. Außerdem machen alle, die mich imitieren, Kunstwerke, alle machen Anti-Kunst. Aber dies ist schon zu viel, übersteigt die Gleichgültigkeit. Man muss jenseits von Anziehung und Ekel bleiben.« Er habe dies sehr früh auf sich selbst bezogen. Einige seiner Readymades standen vor uns auf dem Tisch oder um uns herum auf Möbeln. Er saß wie ein Schwindler unter den Repliken, die ihm der clevere Kunsthändler Arturo Schwarz abgerungen hatte. Eher zynisch äußerte er sich über die Gläubigkeit derer, die heute weiterhin einen »Flaschentrockner« oder eine »Fountain« brauchten. An sich sollte es nie mehr als ein Exemplar geben. Und es spiele keine Rolle, dass die »Originale« verschwunden seien: »Die Tatsache, dass ich über diese Dinge rede, genügt.« Authentizität existierte nicht in seinen Augen. Als ich später einmal in der Hamburger Kunsthalle einen Vortrag hielt, in dem auch Duchamps »Flaschentrockner« eine Rolle spielen sollte, nahm ich kein Diapositiv von der Arbeit mit, sondern kaufte, wie es mir Duchamp früher geraten hatte, das stachelige Objekt »Hérisson« am richtigen Ort, im Bazar de l’Hôtel de Ville. Es war damals noch verfügbar, als absolut gebräuchlicher und geläufiger Artikel für jeden französischen Haushalt, der einen Weinkeller besaß. Meine Investition betrug genau siebenundzwanzig Francs. Ich ließ den Flaschentrockner in Hamburg. Es war offensichtlich, dass sich in der Zeit, da ich Duchamp kennenlernte, in Frankreich noch kaum jemand mit ihm beschäftigte. Er selbst meinte, vor fünfzehn Jahren habe sich wirklich kein Mensch um den »Flaschentrockner« geschert und für die Edition der Rotoreliefs, die er 1935 während des dreiunddreißigsten Concours Lépine auf einem eigenen Stand selbst an den Mann zu bringen suchte, habe er während eines ganzen Monats nur einen einzigen Abnehmer gefunden. Bemerkenswert war sein Hinweis auf die Wahl der Objekte, die er zu Readymades erklärte. Er meinte: »Man kann dies nicht mit jedem Gegenstand machen«, und setzte hinzu: »Es gibt keinen Stil ›Readymades‹.« Er bezog sich auf die damalige ästhetische Situation und darauf, dass die Faszination für Objekte den Surrealismus in die Nähe dessen rückte, was im Barock die Begeisterung für Kunst- und Wunderkammern ausgemacht habe. Von diesen trennte er die Readymades scharf ab und präzisierte: »Objets trouvés sind Stücke wie Wurzeln, seltsam verformte Zweige, die die Kunst einholen wollen.« Auf diesen Wettkampf wäre es den Readymades nie angekommen. Voraussetzung sei für ihn gewesen, dass die Gegenstände, nach denen er griff, möglichst indifferent, leer, ausdruckslos waren. Er suchte fast ausschließlich Objekte aus, die jenseits von Anziehung und Abscheu lagen. Nur das auf den Kopf gestellte, »Fountain« getaufte Urinoir sei eine Ausnahme gewesen, es habe sich dabei um einen Angriff auf den amerikanischen Purismus gehandelt, für den es unerträglich war, offen von hygienischen Artikeln zu reden.
Bei jedem Readymade muss man an sich halten, um den Fluss an Assoziationen, der einen mitreißen möchte, einzudämmen und zu verlangsamen. Um ein Beispiel zu geben: »Fountain« glossiert nicht zuletzt die klassizistische, bleiche Welt, die in New York Bildhauer wie Elie Nadelman und seine Kollegen einer begeisterten amerikanischen
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