Mein Glueck
Kundschaft offerierten. Im Februar des Jahres 1917 hatte Nadelman einen umjubelten Auftritt in einer New Yorker Galerie. Dort zeigte er seine schneeweißen, glatten Büsten aus Marmor, seine ernsten Herren und idealisierten Göttinnen der Gesellschaft mit leicht hingehauchten, entmaterialisierten Gesichtern oder anämisch-zarte Kinder im Stile eines della Robbia. Diese transluziden Grabmalblüten, die das neunzehnte Jahrhundert in so opulentem Maße hervorsprießen ließ, finden in der amerikanischen Skulptur dieser Jahre einen nekrophilen wächsernen Auswuchs, der über »Laura«, »Vertigo« bis zu Brian de Palma die Fiktion des Scheintoten als höchsten Genuss weiterreicht. Dagegen stellt Duchamp das Pissoir als böse Antwort. Während einer unserer Unterhaltungen wagte ich eine weitere Deutung für »Fountain«. Don Quijote verehrt ein metallenes Becken, das er einem vorbeireitenden Barbier entreißt, als die Kopfzier, den Helm des unsterblichen Mambrin. Er projiziert sein Vorwissen, das er aus seiner Lektüre von Ritterromanen bezog, auf ein alltägliches Objekt. Wie Cervantes mit seiner Barbierschale, die dazu dient, Schaum zu schlagen, greift Duchamp nach einem Artikel, der ebenfalls dem sanitären Bereich entstammt. Duchamp stand diesem Vergleich nicht ablehnend gegenüber. Die Wahl des Flaschentrockners begründete er folgendermaßen: »Das ganze Jahrhundert lebte von Asymmetrie und suchte sich mit Deformation abzugeben. Ich habe mit dem ›Flaschentrockner‹ wieder die Symmetrie rehabilitiert.« Er meinte auch, die Fotografie habe die Maler zu Verformungen der Wirklichkeit gezwungen. Diese Erklärung erschien mir mit Blick auf den Futurismus und seinen Elan, Silhouetten von Menschen und Dingen zu zerfasern, höchst aufschlussreich. Doch man dürfe das alles, meinte Duchamp, nicht in erster Linie visuell wahrnehmen und werten. Das Visuelle selbst müsse schließlich verschwinden.
In manchen Fällen ergänzte er seine Fundstücke. Und dies nicht nur im Fall des komplexesten all seiner Werke, einer Komposition im wahrsten Sinne des Wortes, die sich aus verschiedenen Funden zusammensetzte, selbst gemachten marmornen Zuckerstückchen, Vogelkäfig, Thermometer, Porzellanteile und einem Stück Sepiaschale. Es handelt sich um die Arbeit »Why not Sneeze, Rose Sélavy?« für Katherine Dreier. Eine der quälendsten Fragen stellte in meinen Augen »With hidden noise«, der Knäuel Bindfaden, in den Duchamps Freund Arensberg einen kleinen metallenen Gegenstand versenkt hatte. Nur Arensberg kannte ihn. Das führte mich zur Frage, ob Gott einen Kasten zu schaffen vermöge, von dem er nicht weiß, was er enthalte. Und er bemerkte auch, der Küchenhocker, auf den er das Fahrradrad stellte, sei für ihn völlig uninteressant gewesen. Es sei nur darum gegangen, auf diese Weise den Reifen und die Speichen dem Nutzwert zu entziehen. Das sich drehende Rad rücke dieses Readymade, meinte Duchamp, in die Nähe des Bildes »Akt eine Treppe hinabsteigend«.
Im April 1967 schlug er mir vor, ihn auf einer Reise in seine Geburtsstadt Rouen zu begleiten. Anlass war die Eröffnung einer Ausstellung der Geschwister Duchamps im dortigen Musée des Beaux-Arts, die Marcel Duchamp als einziges lebendes Familienmitglied unterstützte. Bei diesem Anlass wurde auch eine Straße zu Ehren des Bruders Jacques Villon benannt. Marcel zog an der kleinen Kordel des Vorhangs, der das Schild verhüllte. Nach dem offiziellen Mittagessen mit den Honoratioren im Rathaus führte er mich an einige Plätze, die für ihn wichtig waren, nicht zuletzt vor das Schaufenster, in dem er, 1913 , die »Schokoladenreibe« in Aktion gesehen hatte. Auf der Fahrt nach Rouen drehten sich unsere Gespräche erneut um den instabilen intellektuellen Zustand der Readymades. Es durfte für sie keinen Anspruch auf eine definitive Bedeutung geben. Sie sollten ständig anders gesehen und anders verstanden werden. Als er sich, so erklärte Duchamp, vor dem Ersten Weltkrieg für den »Flaschentrockner« entschieden habe, sei dieser eines unter vielen massenhaft hergestellten, anonymen Industrieprodukten gewesen. Heute könnte er diese Wirkung nicht mehr erreichen. Allenfalls ließe sich die Aktion mit einem Äquivalent wiederholen. Vielleicht wäre dies zum jetzigen Zeitpunkt irgendeine Schreibmaschine, die er fest in einen Behälter schließen und in die Seine versenken würde, mit der Aufforderung, die Büchse erst in fünfhundert Jahren zu öffnen. Dann werde kein Mensch mehr
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