Mein Glueck
wissen, wozu dieses Ding einmal gedient haben könnte.
Ich hatte auf diesen Ausflug auch eine Crew des Norddeutschen Rundfunks mitgenommen, die mir der begeisterte und aufgeschlossene Redakteur Gerd Kairat zur Verfügung gestellt hatte. Das Team hielt viele Szenen, die Spaziergänge und unsere Konversation mit der Kamera fest. Schon zuvor hatte ich für den NDR Fernsehgespräche mit Max Ernst in seiner Wohnung in der Rue de Lille geführt. Dabei bereitete ich die verschiedenen Takes mit ihm so vor, dass er – ohne dass ich zu sehen war oder man meine Fragen hören konnte – kontinuierlich sein Leben schilderte und die eingeblendeten Werke kommentierte. Das Projekt, einen Film Marcel Duchamp zu widmen, blieb dann leider unvollendet. Alle Versuche, die ich viele Jahre später, zu spät, unternahm, um wieder an das seltene, sensationelle Material heranzukommen, blieben erfolglos.
Für die Fahrt nach Rouen stiegen wir in der Gare Saint-Lazare in den Zug. Die Reise dauerte damals beinahe zwei Stunden. Ich fragte nach Dingen, die mich bei Duchamp immer schon verwirrt hatten. Das waren nicht zuletzt seine scheinbar kubistischen Bilder wie »Le Passage de la Vierge à la Mariée«, das er 1912 in München gemalt hatte. Es gab hier nichts Tektonisches. Alles war wie miteinander vernäht. Die Wirkung war die eines gesteppten Kubismus. Ich sagte zu Duchamp, ich hätte den Eindruck, er wolle den Kubismus ins Gedärm verlegen. Was bei den Kubisten im Kopf, »Cosa mentale«, bleiben sollte, sei von ihm dem Bauch, der Verdauung übergeben worden. Ich glaube, diese kurze letzte Phase im Werk des Malers Duchamp hatte Folgen, über die man sich bis heute nicht klar geworden ist. Die Rolle, die das Viszerale in seinen Werken zu spielen begann, verriet bereits etwas über seinen Horror vor dem Geruch von Terpentin und Ölfarbe. Er wollte sich durch den Gestank, auf den er mit diesen Darstellungen von Gekröse anspielte, den Appetit an der Ölmalerei verderben.
Die Auswirkungen dieser Beschäftigung mit dem Leib, mit der Anatomie erscheinen gewaltig. Sie weisen auf die Körperkunst voraus, die in den fünfziger und sechziger Jahren die Wiener Aktionisten, Rebecca Horn, Gina Pane, Jürgen Klauke oder Marina Abramović praktizierten. In den tranchierten Tierkörpern von Damien Hirst, so meine ich, erreichte diese von Duchamp begründete Nebenlinie ihren vorläufigen Endpunkt. Und im Blick auf Hirst ließe sich noch ein anderer Bezug zum System Duchamps entdecken. Was tut Duchamp in den Readymades anderes, als uns zu immer neuen Interpretationen zu zwingen? Deshalb gibt er sich in diesen letzten Bildern als ein Haruspex Maximus, der zur Eingeweideschau auffordert, zu einer berühmten Form der Wahrsagerei, auf die auch die Ästhetik der Avantgarde mehr und mehr zurückkommt. Im Zug nach Rouen wurden wir während der Fahrt wie auf einer Achterbahn durchgerüttelt. Dieses unruhige Fahren sei, wie mir Marcel Duchamp damals erläuterte, für ihn das physische Ausgangserlebnis für das im Dezember 1911 entstandene Bild »Jeune homme triste dans un train«, einem richtigen Selbstporträt, gewesen. Die Aufsplitterung des Sujets in Facetten, das Verwackelte stellt sich energielos, ohne Schwung gegen den Elan der Futuristen. Es gehört zu den allerletzten Bildern, die der Künstler auf einer Leinwand mit Ölfarbe ausführte. Und warum hatte er schließlich mit Malen aufgehört? Diese Frage brannte auf der Zunge. Der konzeptuelle Hintergrund ist bis in alle Ecken durchleuchtet und aus allen Blickwinkeln zu deuten versucht worden. Aus heutiger Sicht, von dem her gesehen, was auf Duchamp folgte und sich auf ihn berief, fügt sich alles, was nach ihm kam, nahtlos in die Geschichte der Avantgarde ein. Doch hinter Duchamps Bruch steckt nicht nur das Beispiel Rimbauds oder Hofmannsthals mehr oder weniger gespielte Entmutigung im Chandos-Brief, sondern etwas Pathetischeres und zugleich Fassbareres. Mit ungenierten Nachfragen wollte ich ihm dazu eine Aussage entlocken. Die Antwort klang so einfach, dass man sie sicher glauben darf: »Ich konnte mit der Malerei nicht meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich war ein kleiner Knirps.«
Obwohl er in seiner Entwicklung, wie er mir erklärte, kaum vom Impressionismus berührt wurde und man bemerken konnte, mit welcher Appetitlosigkeit er sich in frühen Jahren den Themen der Impressionisten zuwandte, habe er Seurat, dessen Verfestigung und Einbalsamierung der Dinge, sehr bewundert: »Das ist was anderes als der
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