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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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ihm gehe. Und beruhigt stellte sie immer wieder fest, dass ihr dieser noch voraus war und dass er die Ziellinie noch nicht überschritten hatte. Seine Präsenz blieb für sie der Urmeter des eigenen Überlebens. Sie tat alles, um sich in Form zu halten. Der Arzt hatte ihr täglich eine Stunde Spazierengehen verordnet. Sie hielt sich daran und rechnete ständig: vierzehn Minuten hin und zurück zum Café, in dem sie arbeitete. Nur zwölf Minuten bis zu den Champs-Élysées. Und sie zählte auch die Schritte im langen Flur ihrer Wohnung. Fast jeden Tag ging sie zum Abendessen aus, am liebsten zu » Noura« , einem libanesischen Restaurant in der Nähe, in der Avenue Marceau. Und sie ärgerte sich maßlos, wenn ihr eine etwas jüngere Dame beim Überqueren des Boulevards ein »C’est bien ça. C’est bien ça« – »Gut so. Nur langsam!« zurief oder wenn der Ober im Restaurant, bei dem wir drei Gläser Rotwein bestellt hatten, nur zwei brachte. In einem späten Buch zitiert Nathalie Sarraute die letzten, auf Deutsch gesprochenen Worte Tschechows vor seinem Tod im »Hotel Sommer« in Badenweiler. »Ich sterbe« – so setzt L’usage de la parole ( Der Wortgebrauch ) ein, in dem sie wieder zur Form der Tropismes zurückkehrt. Sie umschreibt und kommentiert in diesem Text eine Abwehr und verdeutlicht, warum der Mediziner Tschechow in Gegenwart seiner Frau und seines deutschen Arztes die fremde Sprache wie ein Skalpell einsetzt: »Pas nos mots, mais des mots de circonstance solennels et glacés, des mots morts de langue morte.« Der Fremdkörper der deutschen Worte am Anfang des Romans passt ins Werk der Nathalie Sarraute, das die Scheu vor Überschwang und Empfindsamkeit mit der detaillierten Beschreibung physiologischer Zustände und Aggregate zu kompensieren sucht. Ihre Texte greifen zu biologischen Paradigmen, sprechen von Leukozyten und Antikörpern, die das bedrohte Denken und Fühlen zu verteidigen versuchen. Es sind eindrucksvolle Übertragungen psychischer Zustände ins Viskose, doch hinter den rhetorischen Figuren tut sich unübersehbar der Abgrund von Tod und verfaulenden Leichen auf, der an die grausamen Memento-mori-Bilder eines Valdés Leal in der Hermandad de la Santa Caridad in Sevilla denken lassen. Zahllos sind die Stellen, in denen Hinhalten, Zweifel und Argwohn wie eine alles zersetzende Substanz die direkte Rede aufweichen und verflüssigen. Beide, Nathalie Sarraute und Tschechow, wollten den Tod in Fremdes inkrustieren, aus der eigenen Sprache wegwälzen. In der meditativen, schmerzhaften Skizze von L’usage de la parole tauchte ein neuer Ton auf. Sie schrieb sie zwei Jahre vor Enfance , dem berührenden autobiographischen Buch, das die Autorin berühmt und populär machte. In Enfance erlebt man die Landschaften, sieht die mit reichen Schnitzereien verzierten Holzhäuser, die auch vorher in ihren Texten immer wieder auftauchen. Doch erstmals gab sie in der Schilderung etwas von der existentiellen Zärtlichkeit preis, die sich hinter der zerfasernden Lasertechnik ihrer Sprache versteckt. Es war aufregend, dass diese Erinnerungen einige Jahre nach Sartres Les mots erschienen, die auch auf diesen Autor ein neues Licht geworfen hatten. Aus der Rückschau erscheint die Ablehnung unpersönlicher Strukturen und des Desinfizierten als Widerstand gegen die rationalistischen Tendenzen der sechziger und siebziger Jahre. Mit einem Schlag brechen persönliche Stimmungen in die kalte, sezierende Welt der Tropismen und Ideologien ein. Die verlorene eigene Kindheit, unterdrückte Zärtlichkeit, Liebesentzug kehren bei Sartre und Sarraute in der späten Revision des Lebens zurück. Diese wunderbaren Texte erschienen damals als ein sensationeller Umschwung. Sie widersprachen der Tendenz der Zeit, die vor sich hin analysierte und die das Persönliche nicht nur geringschätzte, sondern wie ein Laster abtat.
    Als ich sie zum letzten Mal besuchte, lag sie ganz winzig im Bett und sah mich mit erschrockenen, wissenden Augen an. Ich hatte sie zuvor nie krank im Bett gesehen. Die kritische Souveränität, der sezierende Umgang mit Sprache und Urteil, alles war von ihr abgefallen. Sie hat sonst niemanden mehr zu sich gelassen, und sie zeigte in dieser Stunde unmittelbar vor ihrem Tod eine Herzlichkeit, die sie zuvor immer eher beharrlich unterdrückt hatte. Sie meinte, sie könne mir überhaupt nicht sagen, wie sehr sie mich liebe und wie stolz sie auf mich sei. Schon seit Jahren hatte sie gerne von mir als ihrem »Baby«

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