Mein Glueck
gesprochen. Ich war der letzte Besucher in ihrer Wohnung. Dies versicherte mir später neidisch François-Marie Banier, den ich durch Nathalie kennengelernt hatte und der sie, das sei zu seiner Ehre gesagt, ohne etwas von ihr erwarten zu können, zutiefst verehrte. Die zärtlichen Worte Nathalies waren auch deshalb so unerhört, weil mir eine ihrer drei Töchter, Anne, die mit Maurice Nadeau in der Redaktion des Verlags von Les Lettres Nouvelles und La Quinzaine littéraire zusammenarbeitete, kurz danach gestand, dass sie auf mich eifersüchtig gewesen sei. Nie habe die Mutter sie umarmt und geküsst. Und aus Andeutungen wurde deutlich, wie schwer sich Nathalie Sarraute mit der Nähe zu ihrer Familie tat, wie sie Opfer, Hörigkeit und zugleich Abstand um sich brauchte. Das machte mich eher traurig, weil ich spürte, dass sich Nathalie zu dieser Kälte offensichtlich zwingen musste. Zeitlebens hat sie es nicht überwunden, keinen Sohn zu haben. Sie suchte Abstand, vor allem zu ihrer Tochter Claude, die mit leichter Hand überaus witzige und freche Kolumnen für Le Monde schrieb, auf die Nathalie immer wieder stolz hinwies. Aber sobald sie erfuhr, dass Claude einen Roman in Arbeit hatte und bald veröffentlichen wollte, sorgte sie dafür, dass sich die Erscheinungsdaten mit denen der eigenen Texte ja nicht berührten. Sie meinte dann, es sei für sie besser, die eigene Publikation sechs Monate hinauszuzögern. Bei der hohen Frequenz mit der Claude Sarraute ihre Romane lieferte, blieb für Nathalie immer nur ein kleines Zeitfenster.
Wenige Wochen nach ihrem Tod waren die Gegenstände, die Bücher, mit denen die weiträumige Wohnung im ersten Stock gegenüber dem Palais Galliera ausgestattet gewesen waren, verschwunden. Beim Vorbeigehen sah man Anstreicher hinter den offenen Fenstern, die das Stockwerk für die neuen Bewohner herrichteten. Der Buchhändler Jean-Claude Vrain rief mich an, etwas verlegen, und berichtete mir, er habe einen ganzen Stoß von Büchern, die ich Nathalie Sarraute gewidmet hatte. Offensichtlich musste alles verschwinden, was eine Spur von Nathalie trug. Die Möbel, die in ihrem Studiolo gedient hatten, sollen, wie ich später hörte, versteigert worden sein. Ein weißer Fleck entstand an diesem Erinnerungsort. Und was war das für ein Ort, an dem man auch François Truffaut, der in dem opulenten Wohnhaus lebte, auf der Treppe begegnen konnte. Aus dem Fenster sah man auf die Bäume, die sich vor der Umfassungsmauer des Musée Galliera abzeichneten und die im Winter filigran fingernd und im Sommer schattig und voll wie in einem Stück von Tschechow die Jahreszeit anzeigten. Das Inventar von Nathalies Büro war schnell aufgestellt gewesen: Schreibtisch, wenige Stühle, Bücher, ein Detail von Benozzo Gozzolis Fresko aus der Cappella dei Magi im Palazzo Medici in Florenz und eine übertrieben schön gerahmte Reproduktion des »Café in Arles« von van Gogh. Sie hing theatralisch zwischen zwei dunklen Vorhängen, so als fände hier der Blick ins Innere, um den es der Schreibenden allein ging, seine Entsprechung in einem metaphysischen Bild der Leere und der Tiefe. Das Bild brachte die einzige starke Farbe in den eher bräunlichen, Ton in Ton gehaltenen, plüschenen Salon, ja in das gesamte große dunkle Appartement. Stärker ließ sich das Eindringen des sezierenden Blicks nicht inszenieren. Gegenüber, über dem Sofa, hing eine Ansicht der Kremlmauer – keine Fotografie, sondern das präzise nachgezeichnete und kolorierte Echo einer Welt von gestern. Von Verschwundenem, von Verletzung war in diesem Raum oft die Rede. Ich dachte an das kleine Mädchen mit den Kohleaugen, das im Jahre 1900 in Iwanowo-Wosnessensk geboren wurde. Die äußeren Umstände ihres Lebens, das Hin-und-her-geworfen-Sein zwischen Eltern, Stiefeltern, zwischen Russland, der Schweiz und Paris führte schnell zu einem Misstrauen, das wie ein Schatten über dem Werk lag.
Sie war mir als sehr schwierige, unglaublich misstrauische Person angekündigt worden. Für den Kreis um Tel Quel war es sicher eine Art Provokation gewesen, mir zu Beginn unserer Treffen nahezulegen, Nathalie Sarraute doch auch um ein Hörspiel zu bitten. Ich traf sie erstmals mit den Freunden von Tel Quel auf der Terrasse des »Flore«. Man zog es dem benachbarten »Les Deux Magots« vor, das zu sehr durch die Präsenz der Hausgötter Sartre, Albert Camus und Juliette Gréco geprägt war. Die Diskussion drehte sich um die aktuelle Ausgabe von Tel Quel . Für
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