Mein Glueck
einen Beitrag hatten Nathalie Sarraute und andere Autoren sich schriftlich zu mehreren Fragen geäußert. Zu einigen Punkten gab Nathalie zusätzliche Erläuterungen, so über ihre Stellung zu Flaubert, dessen Madame Bovary alles überragte, dessen Salammbô sie jedoch für zehn Zeilen Saint-Simons hingeben würde. Irgendwann folgte die Gretchenfrage, wie sie es mit der Psychologie halte. Als wir uns kurz danach wieder trafen und ich auf das Gespräch zurückkam, lachte sie herzlich: Man habe sie drankriegen wollen. Zu gerne hätte man von ihr gehört, dass sie psychologische Romane schreibe, dass ihre deskriptive Methode nur dem Zweck diene, Psychologie in all ihren Verästelungen darzustellen. Die Jungen seien ja alle davon überzeugt, die Psychologie aus ihren Büchern ausgemerzt zu haben und nur reine, wertfreie Beschreibungen zu liefern. Nathalie hielt das für unmöglich. Bei aller Radikalität, mit der sie in ihren Büchern Personen und Verhaltensweisen zerpflückte und durchleuchtete, verbarg sich dahinter doch weiterhin unübersehbar ein Wertesystem, das Eifersucht, Neid, Hass, Ehrsucht nicht außer Kraft zu setzen vermochte. Kurz gesagt, es gab bei ihr etwas, was wir sonst mit der russischen Literatur in Verbindung bringen: Seele, Sehnsucht, Sünde.
Vor allem Philippe Sollers hatte mich dazu aufgefordert, mich mit Nathalie Sarraute zu treffen. Er wusste, dass er mich auf ein vermintes Terrain schickte. Dahinter steckte eine gewisse »vacherie«, so eine kleine Gemeinheit, ein »Versuch’s doch mit der Nathalie, es wird sowieso nicht klappen«. Und in der Tat, obwohl Nathalie Sarraute mich aufs freundlichste empfing, hatte ich doch sofort den Eindruck, ihr als ein völlig unbedarfter, naiver Mensch gegenüberzutreten, der von dem, was sie in der Literatur beabsichtigte, nicht die geringste Ahnung hatte. Das erste, was sie mir denn auch erklärte, war, dass es in ihren Büchern überhaupt keinen Satz gebe, den eine Stimme transportieren könne. Es gehe ihr um Worte unterhalb von Worten, um »sous-conversation«, und diese lasse sich auf keinen Fall in einen direkten Dialog verwandeln. Der Zweifel am Sagbaren sei ihr Geschäft, ebenso wie die Feststellung, dass die Rede meilenweit von den Insinuationen dessen, der redet, entfernt bleiben müsse. Doch ich gab nicht auf und erinnerte Nathalie immer wieder an meine Bitte und erwähnte nebenbei auch, dass Beckett bereits Stücke für den Süddeutschen Rundfunk geschrieben hatte. Das war offensichtlich ein Argument, das sie nicht kaltließ. Ihr Verhältnis zu Beckett war eher miserabel. Sie konnten sich gegenseitig nicht ausstehen. Sicher spielte dabei eine Rolle, dass Beckett vor dem Krieg einmal bei den Sarrautes als Hauslehrer angestellt gewesen war. Aber nun war er weiß Gott kein Abhängiger mehr. In der Zeit der deutschen Besatzung, so Nathalie, sei das vorübergehende Zusammenleben mit Beckett und seiner Frau im Untergrund unerträglich geworden. Beckett erzählte mir, dass er in einem Zimmer mit dem kranken Vater Nathalies untergebracht worden sei. Aber Nathalie setzte dagegen, es sei das beste Zimmer gewesen, das man Beckett gegeben habe. Während sie beim Frühstück saßen, habe Beckett allerdings einen »pot de chambre«, einen Nachttopf, den eine Zeitung bedeckte, an ihnen vorbei durch die Küche getragen. Und eines Tages sei das Paar verschwunden. Becketts Frau habe dabei das Brathuhn, auf das sie sich alle freuten, und die Lebensmittelkarten mitgehen lassen. Dies warf sie allerdings nicht Beckett vor.
Eines Tages, 1963 , rief mich Nathalie an und lud mich ein, das Hörspiel abzuholen, es sei beendet. Vorher hatte sie mit keinem Wort angedeutet, dass sie überhaupt über ein Stück nachdenke oder gar an einem arbeite. Wenn es mir nicht gefalle, mache dies nichts. Sie las mir dann in Gegenwart von Raymond, der zeitlebens ihr bester Ratgeber war, die Dialoge vor. » Le silence« war das erste einer Reihe bedeutender, ja revolutionärer Hörspiele wie »Le Mensonge« (»Die Lüge«) oder »Pour un oui ou pour un non« (»Für ein Ja oder für ein Nein«). »Le mensonge« wurde vom Süddeutschen Rundfunk und dem Sender ORTF-Culture am selben Tag, dem 2. März 1966 , zur selben Zeit, um 20.30 Uhr, ausgestrahlt. Ein zweisprachiges hektographiertes Programmheft zeugt stolz von dieser »création mondiale«, dieser »Welturaufführung«. Nathalie Sarraute äußerte sich über diesen Schritt zum Hörspiel und zum Theater später selbst: »Ich habe lange
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