Mein Glueck
öffnete sich, und wir fuhren weiter zum Haus. Ich bat den Chauffeur, auf mich zu warten. Als ich nach etwa drei Stunden zurückkam, meinte er, er werde das heute seiner Frau und seinen Freunden berichten. Nie habe sich das Tor, zu dem sich regelmäßig neugierige Touristen fahren ließen, geöffnet. Und er schlug mir vor, jetzt doch noch nach Le Cannet zur Villa der Begum zu fahren. Denn auch diese habe den Ruf, absolut unzugänglich für Besucher zu sein.
1962 war Picasso nach Mougins gezogen, in einen Ort auf halbem Weg zwischen Cannes und Grasse. Sein Haus liegt gut sichtbar über der Stadt, und man erkennt es deutlich, wenn man sich auf einer kleinen Straße am Fuß des Hügels dem weitläufigen Mougins nähert. Einige hundert Meter weiter, dem Meer und Cannes zu gelegen, verläuft eine Autobahn, die man vom Haus aus genau sehen konnte. Picasso liebte, wie er erzählte, das Hin und Her der flitzenden Autos: »In Basel im ›Trois Rois‹ habe ich von meinem Hotelzimmer aus den Straßenbahnen zugeschaut. Ich blieb am Fenster, bis der Verkehr nachts aufhörte. Da man mir gesagt hatte, es würde frühmorgens wieder losgehen, ging ich gar nicht ins Bett, sondern blieb die paar Stunden auf.« Oft hatte ich das Haus voller Sehnsucht von Ferne wie eine Gralsburg erspäht. Bis 2 Uhr in der Früh konnte man von der kleinen Straße aus, die von der Autobahnausfahrt Cannes nach Grasse führte, oben im Hügel das Licht sehen, unter dem Picasso urbi et orbi seine Faunsköpfe, seine Atelierszenen, sein erotisches Marionettentheater zu Papier brachte. Die Vehemenz, mit der der Einsiedler an der Côte d’Azur die Zeit ausschöpfte, erschien beispiellos. Die letzten Bilder, die mit allen Fasern an Sinnlichkeit und Umarmung hängen, die Kuss und Kopulation in Großaufnahmen zeigen, zielten darauf, den Tod zu exorzieren. Die Melancholie und die Wut auf den Tod waren unübersehbar. Am unheimlichsten beschreibt ein Satz aus Célines Voyage au bout de la nuit das Gespür für das Nichts, auf das die aufgerissenen Riesenaugen in den letzten entfleischten Selbstporträts hinzeigen: »Man kann behaupten, was man will, die Welt verlässt uns, lange bevor wir endgültig abtreten … Man ist nichts mehr als eine alte Laterne voll Erinnerungen, an einer Straßenecke, wo schon fast niemand mehr vorbeikommt.« Jene Bilder sind Selbstanklagen eines Mannes, der sich gegen seinen Willen ins Leben geworfen sieht und neben die man allenfalls noch Munchs »Der Schrei« stellen kann.
Das spürte der Besucher, und das sah auch derjenige, der tief in der Nacht oben in der Anhöhe die hell erleuchteten Fenster des Ateliers erblickte. Es war Notwehr gegen das Verschwinden. Ich notierte am Tag, da Picasso starb: »Malen, Zeichnen im letzten Jahrzehnt waren für ihn mehr und mehr zum Trick geworden, die Sanduhr so schräg zu stellen, dass die Körnchen einzeln in die verlorene Zeit hinabfielen.« Kein anderes Licht brannte in der Umgebung. Sonst war alles dunkel, die Nacht war beherrscht von der Schwärze der Koniferen. Die Fenster der Wohnräume gingen nach Süden. Die weiten rundbogigen Öffnungen im Parterre und im ersten Stock und die darüberliegenden kleineren Fenster neben der viereckigen Loggia erschienen wie in die schwarzen, zur Wand verwachsenen Zypressen geschlagen, die hinter dem Haus wuchsen. Unterhalb lag wie ein silbernes, an den Hügel gelehntes zitterndes Meer der Olivenhain und über den Zypressen eine Eremitage aus dem siebzehnten Jahrhundert: Notre-Dame-de-Vie. Picasso schrieb auf die Bilder, die in dieser Klause entstanden, gerne jenen Namen. Er hat etwas Behütendes und verweist auf »Leben«. Beim Näherkommen verschwindet das Gebäude wieder. Die Auffahrt führt über die Flanke des Hügels. Vor wenigen Wochen, erzählte er mir bei unserer ersten Begegnung, sei die Zufahrt zu seinem Haus von einem Bauunternehmer, der in der Nähe Appartementhäuser errichte, unterbrochen worden. Picasso war darüber entrüstet, obwohl das Malheur längst behoben war: »Haben Sie gesehen, was die angerichtet haben? Warten Sie, ich zeige Ihnen Fotos davon.« Er suchte sie, fand sie aber nicht. Überhaupt suchte der Mann, der von sich behauptete, er suche nicht, er finde, ständig nach Dingen, die unter den Ablagerungen der Vergangenheit vergraben waren. Dazu gehörte auch die Sammlung mit Fotos all der Babys, die ihm Freunde zugesandt hatten. Er forderte auch mich auf, ihm unbedingt Aufnahmen zu schicken. Den Grund, den die Baufirma, die den
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