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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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ungewöhnlichen Konzentrat an Gleichzeitigkeit. Picasso verfügte in jeder Sekunde, dank einer einzigartigen Beschwörungskraft, auch über vergangene Augenblicke, die er beliebig wie Schubladen hervorziehen konnte. Wenn er von Apollinaire sprach, von Max Jacob, vom Barcelona der frühen Jugend, von der ersten Begegnung mit Kahnweiler, so war dies jedes Mal die mimetische Rekonstruktion einer Zeit, eines Auftritts. Das Gegenteil eines Memoirendaseins. Sein Gedächtnis war so stark, dass es etwas wie abgeschlossene Erinnerung nicht zuließ. Und doch hat er über seine Zeit auf pedantische Weise Buch geführt. Seit den zwanziger Jahren datierte er jedes Bild, jede Zeichnung, setzte oft noch mehrere Daten auf die Rückseite, wenn er eine Arbeit wiederaufnahm. Früh begann Picasso damit, so seine Tage zu verwalten und zu vermessen. Wir besitzen zu dieser akribischen Praktik einen Hinweis des Künstlers. In den Gesprächen mit Brassaï kommt die Rede auf die Notwendigkeit, den Moment der Entstehung eines Werks festzuhalten: »Die Fotos, die Sie in der Rue La Boétie gemacht haben, gefallen mir gerade darum so gut, weil sie wahrheitsgetreu sind. Sie sind wie eine Blutprobe, mit deren Hilfe man analysieren und diagnostizieren kann, wer ich damals gewesen bin.« Und Picasso setzt hinzu: »Warum, glauben Sie, datiere ich alles, was ich mache? … Es wird sicher eines Tages eine Wissenschaft geben, vielleicht wird man sie ›die Wissenschaft vom Menschen‹ nennen, die sich mit dem schöpferischen Menschen befasst, um neue Erkenntnisse über den Menschen im allgemeinen zu gewinnen … Ich denke oft an diese Wissenschaft, und es ist mir wichtig, der Nachwelt eine möglichst vollständige Dokumentation zu hinterlassen … Nun wissen Sie, warum ich alles, was ich mache, datiere …«
    Als ich ihn, in seine Arbeit vertieft, an seinem Tisch sitzen sehe, erscheint es mir, als sei Picasso bei der Freundlichkeit und Nettigkeit des Alters angelangt. Aber als er sich nach der Begrüßung wieder hinsetzt und sich auf den Gesprächspartner konzentriert, zeigt sich, wie vorschnell diese Annahme war. Physisch wirkt er so, wie man ihn sich schon immer vorgestellt hat. Alles ist behend, sehnig an ihm. In seinem Gesicht scheinen sich all die berühmten Fotos zu überblenden: das des Siebenjährigen mit seiner Schwester Lola, die Fotos Man Rays, Brassaïs, Duncans und Quinns. Die brennenden Augen sind die Fixpunkte. Die schwarzen Pupillen, die Iris und Weiß fast völlig beiseitestoßen, sind wie Instrumente, die das Gesehene zurückprojizieren. Der Raum ist gerammelt voll mit Bildern, Skulpturen, Büchern, Objekten. Tische, Liegen, Stühle, Heizkörper, Notenpulte bilden ein geradezu enzyklopädisches Chaos, das Picasso, wie seine Freunde seit frühesten Zeiten zu berichten wussten, bis ins letzte Detail geordnet hatte. Ordnung? Ich dachte beim Blick auf dieses Sammelsurium an ein Wort von Michel Foucault zu Beginn von Les mots et les choses ( Die Ordnung der Dinge ). Das Zitat hat er von Borges übernommen, der es wiederum in einer chinesischen Enzyklopädie gefunden hatte. Wir treffen hier auf eine Systematik, die unsere Denk- und Ordnungsgewohnheiten pervertiert. Die Tiere werden in diesem von Borges referierten Buch in folgende Arten eingeteilt: »a) solche, die dem Kaiser gehören b) einbalsamierte c) gezähmte d) Meerschweinchen e) Sirenen f) wunderbare g) freilaufende Hunde h) folgende, die in der angeführten Klassifikation enthalten sind k) solche, die sich nie verrückt aufführen l) et cetera m) die eben den Milchkrug zerbrochen haben n) die von weitem wie Mücken aussehen.«
    Später, als wir auf die Skulpturen zu sprechen kommen, die unten im gewölbten Gartensaal herumliegen und von denen viele zerbrochen sind, meint denn Picasso, dass nur er diese heterokliten Teile wieder montieren könne. Die größte Plastik, die Picasso je ausgeführt hat und die während des Krieges zerstört wurde, müsste, so sagt er, bald wieder zusammengesetzt werden: »Wenn ich nicht mehr da bin, kann sie niemand mehr zusammensetzen.« Er zeigt auf das Tablett vor sich: »So, als gäbe man jemandem, der auf die Welt kommt, ohne zu wissen, wozu das dient, Tee, Butter, Konfitüre. Was würde er damit machen? Vielleicht wäscht er sich mit dem Tee die Füße, streicht die Konfitüre auf den Kopf und will statt gelber Butter rote oder blaue.« Wäre dieser Ankömmling, von dem Picasso erzählt, nicht vielleicht ein ebenso freier Mann, wie Picasso selbst es

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