Mein Glueck
Zugang versperrte, vorbrachte, ärgerte ihn am meisten: »Die behaupteten da, der geht ja sowieso nie mehr aus. Das ist gar nicht wahr. Außerdem kommen doch auch Freunde. Und die Vorstellung, eingesperrt zu sein, ist nicht auszuhalten.«
Auf halber Höhe öffnet sich das erste Tor. Es geht steil hinauf, durch eine verwachsene wilde Natur. Dann überquert man einen kleinen Bach und sieht das Haus mit seinen Anbauten von der Seite. Es wirkt niedrig, weil die Auffahrtsrampe auf der Ebene des ersten Stocks liegt. Der Sekretär, der nach der Eingangstür links ein kleines Zimmerchen hatte, empfing mich und sagte, ich solle ins Haus gehen, am Ende des Ganges fände ich Monsieur Picasso im Wohnzimmer. Er erwarte mich. Ebenerdig geht es in die Räume, in denen er arbeitet. Vom Haus aus eröffnet sich ein überwältigendes Panorama auf die Bucht von Cannes und die roten Felsen des Estérel. Für Picasso ist dies die Selbstverständlichkeit des mediterranen Prunks, einer Landschaft mit starken plastischen Akzenten. Sie erinnere ihn an die Gegend um Málaga, an die Bucht, die von der Sierra de Mijas und den Montés de Málaga umschlossen wird. Es ist auffällig, dass Landschaft in seinem Werk kaum vorkommt. Auf diese Unempfänglichkeit hat Gertrude Stein früh hingewiesen. Sie gründete ihre Interpretation der Bilder Picassos auf ein für den Spanier typisches Desinteresse an der Natur. Natur ist bei ihm nicht mehr als die selbstverständliche, nie in Frage gestellte Kulisse des Lebens. Picasso war immer Städter oder Bewohner der Küste, einer Landschaft, die begrenzt ist. In Vauvenargues, wo er vor dem Umzug nach Mougins in einem mächtigen Schloss mit zwei runden Ecktürmen wohnte, von dem aus der Blick auf Cézannes Montagne Sainte-Victoire geht, zeigte sich etwas Wesentliches. Picasso ertrug diese von Cézanne thematisierte Über-Landschaft nicht lange: Der Wegzug von Vauvenargues glich einer Flucht.
Als ich in Mougins ankam, fielen mir alle Hauseingänge ein, vor denen ich in Barcelona, Málaga oder Paris sehnsüchtig gestanden hatte. Es waren Häuser, die Picasso definitiv verlassen hatte. Das ist das Erregende an einer solchen Fahrt zu den Türen, durch die Picasso gegangen ist: Wir balancieren zwischen dem, was sich noch ereignen, und dem, was eines Tages unwiederbringlich sein wird. Wir suchen Geschichte, und wir treffen noch auf die Sekunde, in der die Zeit sich schämt, Geschichte zu werden. Dass mein Gang durch das Leben Picassos nun in die reale Zeit münden sollte, schien diese Recherche ins Vergangene irgendwie zu relativieren, ja unwirklich zu machen. Es ist die Nähe und die Ferne des Geschichtlichen, die sich herauskristallisiert, in diesem Blick auf den kleinen Mann, der in angespannter Konzentration an einem banalen Wohnzimmertisch sitzt und zeichnet.
Er hat mich nicht gehört. Es war ein Tag, an dem der Mistral raste. Der Himmel war strahlend blau. Und der Sturm brachte ums Haus metallische Gegenstände zum Zittern und Klingen. Endlos lang kam mir dieser Weg durch den Hausflur vor, als könne allein die Zeitlupe diese Begegnung mit dem Jahrhundert ertragbar machen. Picasso sitzt da in einem großkarierten Hemd, fast einem textilen Schachbrett, mit offenem Kragen und zeichnet abwechselnd mit einem roten und einem blauen Stift einen bärtigen Faunskopf, seine »bocca della verità«. Er skizzierte auf einem abgerissenen Stück Karton, das ihm eben unter die Finger gekommen war, einem Stück, groß genug, um noch die geringste Pause in seiner Arbeit zu überbrücken. Picasso in einem anderen Beruf? Ein Denkspiel. Was wäre aus ihm geworden? Er selbst meinte einmal, sicherlich so etwas wie ein schwerer Junge. Dann schaut er auf, nimmt die Brille ab, steht auf, schnellt auf, umarmt mich und heißt mich willkommen – und zwar mit der Intensität eines Mannes, der entweder akzeptiert oder ablehnt. Dieser winzige Athlet, auf dessen linker Wange als drittes, als Zyklopenauge nach und nach ein schwarzer Altersfleck hervortrat, hat bis zuletzt dem Tod die einzige Wahrheit entgegengehalten, die der Arbeit. Wäre ich diesem unglaublich agilen Mann nicht selbst gegenübergetreten, ich hätte die Berichte, die aus Mougins kamen, für kultische Propaganda halten müssen. Man vergisst, wenn man mit ihm zusammen ist, das Alter. Hier scheint sich das Physische mit dem Werk zu treffen. Durchblättert man die Abertausende Fotos, die in chronologischer Ordnung Zeichnungen und Bilder festhalten, wird alles zu einem
Weitere Kostenlose Bücher