Mein Glueck
Zeichnungen liegen ungeordnet in Hunderten von Mappen vergraben. Früher hat er in diesen Räumen gemalt. Jetzt ist dafür kein Platz mehr. »Ich habe nicht einmal mehr ein Atelier. Ich glaube, ich muss mir bald wieder eines bauen lassen.« Man kennt diese Klage. Er würde das neue ebenso rasch vollstopfen wie die, die er bisher gefüllt und danach verschlossen hat. Als wir durchs Haus gehen, ist Picasso der schmale weiße Korridor, der als Durchgang dient, plötzlich ein Dorn im Auge. In Gegenwart des entsetzten Sekretärs sagt er: »Hier sollte man Regale aufstellen. Da könnte ich meine Bücher unterbringen.« Wir betreten das kleine reinliche, geordnete Räumchen, in dem der Sekretär arbeitet. Auch diese Quadratmeter begehrt Picasso, weil ihn die Ordnung provoziert. Er fängt an, auf dem Tisch zu stöbern, und entdeckt einen winzigen orangefarbenen Stift, nimmt ihn, zeigt ihn mir: »Was man doch heute für hübsche praktische Dinge macht«, und steckt ihn ein. Solange es irgendwie geht, solange es nachmittags noch warm ist, malt er im ersten Stock auf einem geräumigen, von Blumen umrankten Balkon, der sich weit zur Küstenlandschaft hin öffnet. Hier arbeitet er halbnackt zwischen Glyzinen und Begnonien, eine von Hummeln durchschwärmte Wand aus orangenen Trompetenblüten. Jacqueline hat nebenan ein winziges Zimmerchen, und die Wanne im angrenzenden Badezimmer dient öfters dazu, von Platten oder Druckstöcken erste Probeabzüge zu machen.
Die Vorbereitung seines neunzigsten Geburtstags enerviert ihn. Er verschwindet an seinen Geburtstagen immer auf eine imaginäre Reise. Das Telefon klingelt, doch keiner nimmt den Hörer ab, es klingelt ins Leere. Diese Verweigerung gleicht einem Ritual. Beim letzten Besuch in Mougins sagte er leicht amüsiert, leicht beschwörend: »Man bereitet meinen hundertsten Geburtstag vor.« Picasso hält sich bereit. Auch für den alten Goya, der in Bordeaux seine letzten Jahre verbrachte, war der berühmteste Greis der Kunstgeschichte, Tizian, mit neunundneunzig Jahren ein erstrebenswertes Vorbild. »Alles interessiert sich für meinen Geburtstag. Nur ich nicht. Gestern bekam ich deswegen den Brief eines Ministers. Aber warum sollte ich wegen meines Geburtstages einen Minister empfangen? Ich habe meine Arbeit, die nimmt mir niemand ab.« Dabei hat er den Kontakt zur Welt nicht verloren. Freunde, Politik, soziales Geschehen, Vermischtes in den Zeitungen, auf all dies verweist er im Gespräch. Erschüttert zeigt er mir einen Titel in der Tageszeitung Nice-Matin : »140 Tote und 2700 Verletzte auf den Straßen am Pfingstwochenende«. Auch der Tod des baskischen Sängers Luis Mariano bewegt ihn. »Haben Sie im Fernsehen den Film über die Surrealisten, über Breton und Max Ernst, gesehen? Das war eine gute Sache.« Im übrigen schimpft er aufs Fernsehen. Es würde die Leute verdummen. Nachrichten sieht er gerne und mit Vorliebe Ringkämpfe. Das sind seine Zimmercorridas. Versäumt man es, ihn auf ein Match hinzuweisen, ärgert er sich. Catch ist für ihn eine ernste Sache und kein Anlass, sich zu mokieren. Das erinnert ihn an die Schaubudenwelt, der er in Barcelona seine frühesten Motive entnahm.
Doch Picasso war alles andere als ein politischer Aktivist. Seine Nähe zur kommunistischen Partei nach dem Ende der deutschen Besatzungszeit beunruhigte deshalb Kahnweiler auch nicht über die Maßen. Er nahm ihm diesen Beitritt zur KP nicht ab. Eigentlich sei Picasso, wie mir Kahnweiler bedeutete, von der Jugend an eher Royalist geblieben. Doch seine superbe Verachtung von Offiziellen und Ministern beeindruckte mich und tat mir gut. Sie unterschied sich von dem Verhalten all der Künstler und Schriftsteller, die, sobald sie einen Minister sehen, diesem so dicht aufs Fell rücken, dass man sie für Implantate der Macht nehmen muss. Diesem stolzen und kritischen Umgang mit der Obrigkeit begegnete ich auch bei Max Ernst. Er und Dorothea begleiteten die politische Aktualität mit vehementer Kritik. Der Vietnamkrieg, Watergate und die Politik Nixons affizierten sie nachhaltig. Und Max Ernst mischte sich auch in die französische Innenpolitik ein. Davon zeugt ein Telegramm, das ich im Juni 1971 in seinem Auftrag an den Präsidenten Georges Pompidou zu senden hatte. In diesem protestierte er gegen den haarsträubenden Abbruch des Hallenviertels: »Monsieur le Président, je considère comme votre devoir de sauver les Halles. Salutations respectueuses, Max Ernst.«
Picasso beginnt das Studium
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