Mein Glueck
Skizzenbuch Picassos geschenkt. Wir setzten uns auf ein mit geripptem grünem Samt bespanntes Kanapee und schauten auf Ingres’ »Jupiter und Thétis« und Cézannes »Badende«. Beim Blick auf das Bild von Ingres sprachen wir darüber, dass bei Picasso nie von einer unmittelbaren Übernahme von Modellen die Rede sein könne. Das späte Carnet, in dem er sich mit dem Bild »Jupiter und Thétis« beschäftigt, bildet hier wohl nur deshalb eine Ausnahme, weil die extravagante Komposition Picasso dazu auffordere, die Abweichung vom Kanon noch zu forcieren. Man kann manche Zeichnungen Ingres’, die das eine oder andere Detail übertreiben, denen Picassos gegenüberstellen. Nehmen wir den geschwollenen Hals der »Belle Zélie«, bei der der Arzt Laignel-Lavastine eine Erkrankung der Schilddrüse diagnostizierte, oder die drei überzähligen Wirbel, die Kritiker im Rücken der »Großen Odaliske« beanstandeten, und eben im Musée Granet den überlangen linken Arm der Thétis. Sicher, derartige Vorwürfe gegen Ingres mögen im anatomischen Sinn berechtigt sein, aber die Verformungen, die sich in seinem Werk finden, entspringen dem Bedürfnis, dem blutleeren Neoklassizismus eine klare, erregende Kontur zu geben. Es kommt in diesen Bildern zu wollüstigen Verzerrungen, die zeigen, wie sehr der Künstler sich auf ein bestimmtes Körperteil konzentriert. Auf Ingres’ Wort »Ein Frauenhals ist niemals zu lang« gibt Picasso seine eigene Replik: Sie besteht in skandalösen Verformungen, die aus einer erotischen Übernähe, einer Art Kussnähe des Künstlers, zustande kommen. Man kann richtiggehend miterleben, wie er sich auf den Leib wirft, um über ihn zu verfügen.
Die Reise nach Vauvenargues führte durch das Hinterland der Provence. Es hatte etwas unerhört Anrührendes, wie stark sich bei Jacqueline die Liturgie dieser Treuebekundung an das Leben, an die Vorstellung der Unsterblichkeit Picassos klammerte. Picasso hatte sich an diesem ernsten Platz nicht definitiv einrichten wollen. Da herrschte zu viel Maestoso. Die Störung der Behaglichkeit, auf die er sich hier eingelassen hatte, zeigt sich in der überaus kargen, provisorischen Möblierung der weitläufigen Salons und Korridore. Das Schloss mit seinen roten Fensterläden im oberen Geschoss war bis auf wenige Möbel so gut wie leer geblieben. Das pechschwarze, riesige Buffet Henris II. war nach dem Umzug nach Mougins an seinem Platz geblieben. Es schien richtiggehend an den eigenen Verzierungen zu ersticken. Diese ornamentale Flut hatte Picasso angeregt, das Haus während seiner »Grünen Periode« in Vauvenargues wiederholt zu malen oder zu zeichnen. Welch ein Kontrast war es zur Villa »La Californie« bei Cannes und zum Haus in Mougins, in dem ein dichter und geheimnisvoller Horror vacui bis in den letzten Winkel herrschte. Wie bei der Mondlandung waren in dem riesigen Anwesen in Vauvenargues nur einige Orte markiert. Unübersehbar taucht hierbei das katalanische Rot-Gelb des Kopfteils von Picassos Bett auf. Die neun Streifen der Flagge richtet der Künstler ins Vertikale. Das Muster des Banners erscheint auch auf der Rückenlehne eines Stuhles, den er bemalt hat. Leere und Abgeschiedenheit können die Besucher auch heute erleben. Der Stillstand der Zeit verschlägt dem, der hierherkommt, die Sprache, er bedrängt ihn. Denn an diesem Ort hat sich seit dem Tode Jacquelines so gut wie nichts verändert.
Am 11. Oktober telefoniere ich mit Cathy. Sie ist glücklich über das sich bessernde Verhältnis zu ihrer Mutter. Das freut mich, und ich schicke Jacqueline Blumen nach Mougins. Am 13. ruft mich Jacqueline an und erzählt, sie komme eben aus Vauvenargues zurück, sie habe Pablo etwas mitgebracht. Morgens um 4 Uhr habe sie das Haus geweckt. Und sie sagt: »Ich habe alles geregelt. Gebe alles nach Madrid. Weißt du, dass Landais tot ist? Er muss noch unterschreiben wegen Spanien. Du hast die schönste Ausstellung gemacht, die Skulpturen in Berlin.«
»Und ich habe alles Pablo erzählt. Und du weißt, wie anspruchsvoll er ist.« Und sie meinte noch, ich solle sie morgen, am Dienstag, dem 14., besuchen. Als ich antworte, ich könne erst am Mittwoch oder Donnerstag kommen, erwidert sie: »Dann ist es zu spät.« Ich habe nicht weiter achtgegeben auf diese Bemerkung, war ich doch an übertriebene Reaktionen von ihr gewöhnt. Am anderen Morgen, dem 15. Oktober, klingelt das Telefon, und man sagt mir, Jacqueline habe sich in dieser Nacht erschossen. Sie hatte immer einen
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