Mein Glueck
hysterisch-religiöse Erziehung zurückführen ließ, betraf mich selbst, ja jagte mir nachträglich Angst ein. Politisch musste ich diesen antisemitischen, outrierten Schriftsteller verdammen, doch zugleich konnte ich mich nicht von einer verwirrten und verwirrenden Bewunderung freimachen. Sie wurde noch verstärkt durch das Urteil von George Steiner, der notierte: »Ein begeisterter Artikel von Camus hatte meine Aufmerksamkeit für Les deux Étendards geweckt. Und bereits nach der Lektüre der ersten Seite wusste ich, dass es sich um ein geniales Werk handelte und dass die Figur der jungen Anne-Marie sich mit Tolstoi vergleichen ließ.« Auf meine Rezension folgte kurze Zeit später der Auftrag von Karl Korn, zur umfangreichen Guardi-Retrospektive nach Venedig zu fahren und über Francesco Guardi und die flockige venezianische Vedutenmalerei zu berichten. Der FAZ -Herausgeber war auf mich aufmerksam geworden und überließ mir bald mehr und mehr, über französische Themen zu schreiben. Ich muss gestehen, dass mich sein Vertrauen und die Unerschrockenheit, mit der er einen jungen und unerfahrenen Menschen für diese berühmte Zeitung heranzog, überraschten und berührten. Andere Herausgeber und Feuilletonchefs schauten sich nach »Federn« um. Korn war ein Mann, der Chancen geben wollte. Und er wusste, dass diese zugleich eine Herausforderung bedeuteten: Das kam mir zugute. Denn das war es, was ich brauchte, um in andere Welten einzudringen. Der Beginn meiner Mitarbeit fiel noch in die Zeit, als man auf eine Ausstellung oder ein neues Buch nicht sofort zu reagieren hatte. Die Instant-Urteile, die heute üblich sind und Reflexion und genaue Beschäftigung weitgehend ausschließen, gab es in dieser Form noch nicht. Für meine Artikel zu unterschiedlichsten Themen hatte ich Zeit, mich in die Sekundärliteratur einzulesen. Das war ein unbezahlbarer Vorteil. Vieles, was ich in den ersten Jahren schrieb, berührte sich mit dem, was ich in Frankreich zunächst entdeckt hatte, der Literatur sowie der Philosophie der Aufklärung.
Später wurde mir klar, dass die Freundschaft, die Henning Ritter und mich verbindet, in der gemeinsamen Lektüre dieser Werke aus dem französischen achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert ihr sicheres Fundament besitzt. Aus unserem Austausch ergaben sich zunächst meine wichtigsten und spannendsten Lektüren. Darunter nicht zuletzt die fabelhafte, von Jean Seznec und Jean Adhémar besorgte kritische Ausgabe der Salons von Diderot. Hier entdeckte ich, was Kunstkritik, ausgehend von einer Mischung aus Systematik und gewagter Emotion, zu erreichen vermochte. Heine, Baudelaire, Apollinaire, alle konnten den hier begründeten Ansatz nutzen, um die eigene Subjektivität, ihre Bewunderung oder ihren Abscheu deutlich zum Ausdruck zu bringen. Choderlos de Laclos’ Liaisons dangereuses , Diderots Bijoux indiscrets ( Die indiskreten Kleinode ) bleiben für mich die erotischsten Schriften, die ich je gelesen habe. Vor allem Diderots kleiner Roman, in dem der Sultan Mangogul einen Zauberring geschenkt bekommt, dank dem jede Frau, der er gegenübertritt, gezwungen ist, sich ihm hinzugeben, ist wie ein Segen für die pornographische und galante Literatur der Zeit, die sich oftmals lediglich auf eine Schilderung der Mechanik von Leibern kaprizierte. Kaum etwas scheint besser zu veranschaulichen, was de Sade zu unendlichen Variationen ausformte, als Diderots vergebliches Spiel mit Schlüsseln und Schlössern und seine Frustration darüber, dass sich nichts endgültig öffnen und besitzen lässt. Einmal entdeckt, verschließt das Geheimnis sich wieder. Die Idee, ein Inventar der weiblichen Psychologie aufzustellen und dabei von dem auszugehen, was der intimste Teil der Frau, ihr »Kleinod«, und nicht ihr Mund preisgibt, entstammt dem Nocerion des Grafen Caylus. Mit Caylus diskutiert Diderot über die Gleichrangigkeit aller Objekte der Antike. Diderot wirft dem »Antiquar« Caylus vor, keinen Unterschied zwischen Hohem und Niederem zu machen, was der Ideologie Diderots, der in seiner Enzyklopädie und in den Tafelbänden erstmals alles ohne Hierarchie vorstellte, absolut entgegensteht. In diesem Zusammenhang muss man auch eines der ungeheuersten Bücher der Zeit, Diderots Nachtrag zu Bougainvilles Reise , erwähnen. Anlass zu diesem »Nachtrag« war der Bericht, den Louis-Antoine de Bougainville 1771 über seine Weltreise vorlegte. Der Abschnitt, der von Tahiti handelt, war damals Tagesgespräch in Paris. Die
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