Mein Glueck
sexuelle Freiheit, der die Reisenden auf Tahiti begegneten und die von keinerlei Moralvorschrift eingeengt wurde, erregte das Paris der Libertins. Die Grundidee , der Zusammenprall von zivilisierter und natürlicher Lebensweise, rief erneut den Kampf gegen Rousseaus Thesen vom Naturzustand des Menschen auf den Plan. Für Diderot ist Natur keineswegs – wie für Rousseau – eine positive Konstante. Sie trägt den Keim zur Selbstzerstörung in sich. Wären Freiheit und Offenheit lediglich ein vergangener Urzustand der Menschheit, taugten sie nicht als Konstruktion und als menschliche Aufgabe. Die Utopie Rousseaus muss verschwinden, damit die Welt der Menschen und die sittliche Entscheidung als Realität möglich werden. Zu diesem Gedanken passte auch die Lektüre von Bernhard Groethuysen, auf den mich Francis Ponge als einen bedeutenden Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich hingewiesen hatte.
Henning Ritter, Ulrich Wickert und Werner Spies
Er überreichte mir bei einem der ersten Treffen seine Note hâtive à la gloire de Groethuysen . Bei der Lektüre von Groethuysens Philosophie der Französischen Revolution stieß ich auf Dilthey, der einen entscheidenden Einfluss auf den Philosophen und Historiker ausgeübt hatte. Nach und nach wurde Diderot für mich ein Lieblingsautor, der mir selbst über das Neueste Aufschluss gab, nicht zuletzt über das entscheidende Kapital des Nouveau Roman, die Unsicherheit. Auch Diderot ist auf der Suche nach seinem Leser. Er braucht ihn, um mit ihm zusammen das Werk hervorzubringen. Man könnte die Romantechnik Diderots aber kurzweg als Suche nach dem Leser beschreiben. Überall schafft sich Diderot ein Vis-à-vis, setzt sich ein Gegenüber und simuliert die Zwiesprache. Das packendste Beispiel dafür ist Jakob und sein Herr , das Buch, in dem jeder – Herr, Diener und Autor – wie in Becketts Warten auf Godot an einem anderen Strick zieht.
Das waren Fragen, die mich dann auch im Zusammenhang mit der Freiheitsillusion des Mai 1968 beschäftigten. Ich habe erwähnt, dass damals in den ersten Tagen ein seinem Kontext entrissenes Zitat aus Les Fruits d’or von Nathalie Sarraute, »Man muss alles zerstören«, auf einem Plakat in den Kiosken der Zeitungsverkäufer zu sehen war. Es war ein Satz, den man zunächst, als auf den Straßen alles noch überaus friedlich verlief, wie einen Aufruf zu Innerlichkeit und Selbstbesinnung verstehen konnte. Doch die Ereignisse der kommenden Tage machten aus einer komplexen, dem Zusammenhang entrissenen Redensart die Parole einer Passionaria. Nathalie Sarraute beabsichtigte jedoch mehr als das Zertrümmern von Statussymbolen. Ihre Bücher zerstörten den blinden Glauben ans Wort – indem dieses in ihren Texten »zerbricht« und zeigt, dass es käuflich ist, dass wir uns Parolen einzelner nicht sorglos überlassen können. Nathalie Sarrautes Zeitalter des Argwohns ist die Skizze einer tiefgreifenden Kulturrevolution, die deren kritischen Aspekt, unabhängig von den jeweiligen geschichtlichen Erfolgen, dem jeweiligen System und seinen Menschen überordnet. All die Denkschemata, die die französische Literatur der Gegenwart, vor allem der Nouveau Roman, entwickelt hat, waren bisher kaum in die französische Gesellschaft eingedrungen. Auf den Schulen wurden diese Autoren nicht behandelt, und auf der Universität war eine Beschäftigung mit ihnen äußerst selten, verbietet es doch die französische Universitätssatzung bis heute, einem Schriftsteller zu seinen Lebzeiten eine Dissertation zu widmen. Machte die Auslegung im Sinne eines gewalttätigen Eingreifens Sarrautes Satz revolutionärer oder nur modischer? Das meiste, was in der Sorbonne, auf der Straße, in verschiedenen Foren, im Theatre de l’Odéon von Jean-Louis Barrault diskutiert wurde, blieb von der bedeutenden Bewusstseinskritik, die die avancierte französische Literatur hervorgebracht hatte, fast unberührt. Das erhobene Wort drang aus allen Ecken hervor, ließ sich wie eine dicke Schicht auf den Wänden nieder. Man zappelte im ökumenischen Hof der Sorbonne, eingesponnen in ein Netz von abertausend Wörtern. Das Wort verbreitete sich in fast kreatürlicher Form über die Plätze und Straßen der Stadt. Worte verführten zu anschmiegsamer Nähe und wurden gefeiert. Das Wort, weniger seine Inhalte als seine spontane, unkontrollierte Verfügbarkeit, wurde zur Ideologie der Maitage. Es wurde Anlass einer ewigen Andacht. Zu welcher Gruppe man auch trat, überall wurde das Wort
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