Mein Glueck
zum Unisono der Vertraulichkeit und Garant der eigenen Würde. Das Wort diente fast immer derselben Feststellung, die, halb und halb zur Formel erstarrt, das Gespräch einführte und voller Verwunderung über den überraschenden Inhalt auch im Folgenden oft wiederholt wurde: »Wir reden wieder miteinander.« Es ging um Worte. Sobald jemand den Mund aufmachte, war er von anderen umlagert, die das Wunder der Rede mitfeiern wollten. Es war eine rituelle Aneignung des Wortes – und das war das entscheidende politische Faktum: die Auflehnung gegen den institutionalisierten Monolog des Staatschefs, des Patrons, des Lehrers, des Vaters. In den Theatern, in seinen rotsamtenen Boudoirs, lagen die Leute auf der Couch und redeten sich frei – eine solche psychoanalytische Großsitzung hatte es wohl noch nie gegeben. Überhaupt war alles irreal. Es floss kein Blut. Für viele blieb das, was sich auf den Straßen abspielte, nicht viel mehr als ein Spektakel, das man sich am liebsten in der Gegend um den Boulevard Saint-Michel herum anschaute. Man saß im Restaurant und wurde allenfalls einmal gestört, wenn eine Schwade Tränengas in den Raum eindrang. Manches war schwierig oder unmöglich geworden. Es gab keine Postzustellung mehr, die Verkehrsbetriebe streikten. Um nach Paris zu kommen, musste ich für Hin- und Rückweg jeweils zehn Kilometer zu Fuß einplanen. Autostopp funktionierte auch nicht mehr, da alle Tankstellen nach und nach schließen mussten. Auch die handbetriebene Telefonvermittlung bereitete einem Schwierigkeiten. Max Ernst konnte ich nur erreichen, wenn ich insistierte, der Anruf habe »une raison sanitaire«, gesundheitliche Gründe. Beliebt war bei Kennern ein Besuch des neugegründeten »Atelier Populaire« in der École des Beaux-Arts. Hier trafen sich erstmals am 15. Mai 1968 Künstler, Designer und Kunststudenten. Über einen Monat lang diskutierte man täglich die Slogans für die Transparente, die anschließend in hohen Auflagen gedruckt wurden. Immer wieder ging ich dorthin und besorgte mir die neuesten Plakate. Über zweihundert entstanden. Sie wurden auf billiges Papier gedruckt und waren zumeist einfarbig. Schwarz, Rot, Grün, Blau oder Braunviolett dominierten. Kurze Parolen, klare Bildwörter sorgten für eine allgemeinverständliche plakative Syntax. Es waren geniale Einfälle darunter, die wie Wurfgeschosse auf die Stadt niederprasselten und über die alle Welt sprach. Hinweise auf die Gestalter fehlten jedoch. Keine Handschrift drängte sich in den Vordergrund. Man verzichtete auf Originalität. Als Muster dienten Majakowskis berühmte Rosta-Fenster, deren Wirkung in der gewollten Simplifizierung der Botschaft begründet lag. Es ist informativ, diese Lawine an Motiven, die eine kollektive Begeisterung losgetreten hatte, nachträglich mit den Blättern zu vergleichen, die von Künstlern entworfen wurden, die einen eigenen Beitrag zum Pariser Mai leisten wollten. Die Plakate der Appel, Cremonini, Degottex, Ipoustéguy oder Asger Jorn erreichten nie die visuelle Macht des Anonymen, für das die Straße ihre Altäre errichtet hatte. Was sie machten, ging bald in der Flut jener schicken, populistischen Kaufhausgraphik und Multiple-Welt unter, die bald danach ihre fette Zeit hatte. Manche Künstler, wie Matta, erlebten damals ihre große Stunde. Sie zogen nach Flins und dozierten in der Renault-Fabrik Revolution.
Ich nahm diesen Künstlern ihr plötzliches Engagement nicht ab. Alles blieb bei ihnen paternalistisch, verharrte im Versuch, sich mit Hilfe des Aufruhrs selbst zu verjüngen. Die zerstörerischen Auswirkungen ihres Aufstands erlebte man Monate später. Bei einer Versammlung in der Galerie Denise René bedrängten einige Künstler, die vorher nicht schlecht von der Generosität des Hauses profitiert hatten, auf üble Weise die kleine, zierliche Frau. Sie forderten mehr Beteiligung und wollten eher den Untergang der Galerie hinnehmen, als auf ihre Forderung zusätzlicher Privilegien zu verzichten. Am aggressivsten agierte damals, wie ich miterleben konnte, Julio le Parc, der wirklich aus dem Nichts kam, jedoch inzwischen großen Hof hielt und sich beim Essen von einem Diener mit weißen Handschuhen servieren ließ. Im Umkreis der Galerien kam es zu einer Reihe von Reformversuchen.
Doch die zaghaften Bemühungen des Kunsthandels, das Marktsystem ein wenig breiter anzulegen (dem teuren Einzelwerk das Multiple zur Seite zu stellen, das die Kunst demokratisiert), wurden abgetan. Das Multiple
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