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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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die Regie des Visuellen. Sie demonstrierten Revolution im Zeitalter ihrer ästhetischen Reproduzierbarkeit und griffen dabei auf ein Repertoire bekannter Formen zurück, halb Living Theatre, halb anarchistische Geste Ravachols, entsetzlich bleich mit schwarzer Weste. Die 48er-Revolution, die Kommune und die Szenographie von »Panzerkreuzer Potemkin« waren die Bezugspunkte. Großaufnahmen von den Barrikadenkämpfen im Eisenstein-Stil hingen im Hof der Sorbonne als Anweisung für eine szenographische Gestaltung der jeweiligen Kundgebungen. Doch letztlich brachte der Mai 68 keine neue Kunst hervor. Im Gegenteil, zahlreiche Aktionen des Protests griffen auf bereits erprobte, ausgediente Kunstformen zurück. Happenings, Environments zogen vorübergehend aus den Ateliers auf die Straße. Nachträglich wurden sie zum Befreiungsspiel erklärt, »zu dem«, wie es hieß, »alle eingeladen sind und das seine Mitspieler der Passivität und Trübsinnigkeit des Alltags entreißt«.
    Eine solche Formulierung zeigt am besten, dass die Straßenschlachten, Universitätsbesetzungen und Umzüge mehr und mehr als Spektakel goutiert wurden. Von der »Wiederentdeckung des urbanen Spiels« war die Rede. Wer die erschreckend wirkungslose Besetzung des Odéon miterlebt hat, findet eine solche Umschreibung für ein völlig missglücktes, im Sinne weiter, offener Kulturarbeit begonnenes, später unter dem Druck der Pleite rasch zum anarchistischen Symbol ausgerufenes Boulevard-Debakel schamlos. Bezüglich des Visuellen kamen sie kaum über das hinaus, was Living Theatre und III. Internationale vorgemacht hatten. Die revolutionären »Happenings« nahmen mehr und mehr spielerische Formen an, vor allem in den Vierteln, in denen es keine Barrikaden, keine Straßenkämpfe und kein Tränengas gab. Als Eltern erlebte man, wie dieses Revolutionsspiel von den Kleinen aufgenommen wurde. Auch unser vierjähriger Sohn Patrick spielte mit seinen Kameraden auf dem Schulhof mit Holz und Steinen Barrikadenbau. Ich selbst war völlig entspannt, leicht fatalistisch. Wir hatten auch nicht wie andere Proviant angehäuft. Ich erinnerte mich auf einmal daran, dass während des Krieges meine Schwestern mit Molke und Steckrüben Kunsthonig fabriziert hatten. Das brachte mich auf den Gedanken, die letzte Packung Zucker, die wir im Hause hatten, zu Karamell zu verarbeiten. Ich goss die geschmolzene Masse, unter die ich ein wenig Butter und Milch gemischt hatte, auf den Küchentisch. Leider war es unmöglich, die Masse in Stücke zu schneiden. Alles blieb auf dem glatten Formica kleben. Einige Tage lang erfreuten sich Patrick und seine Freunde daran, das Karamell direkt vom Tisch zu lecken.
    Man sah in Paris gegen Ende der Unruhen keine einzelnen Parolen mehr, sondern stieß auf Maueranschläge, die von den unerhörten Erfolgen der Kulturrevolution in China berichteten. Die Pflastersteine hatten als Wurfgeschosse ausgedient und wurden nun eingesetzt, um im Hof der Sorbonne das Angebot an Drucksachen auf den Tischen zu beschweren. Parolen wie »Die Revolution ist ein Fest«, libertäre vertrocknete Sandwichs und grüne Minze lagen sinnlos nebeneinander. Sie wurden vom Besucher in ihrem Anachronismus – als Gegenteil zu Straßenunruhen und politisierten Streiks – genossen. Wer in dieser Endphase politische Fakten suchte, stieß lediglich auf Vermischtes. In Paris hing die rote Fahne neben Socken und Unterwäsche vor der Fassade der Sorbonne, und man wartete darauf, dass, wie in den anarchistischen Tagen Barcelonas, Autofahrer mit Vollgas um die Ecke kämen – denn was ist Anarchie, wenn sie sich nur mit der sichtbaren Autorität misst, wenn sie nur neben das Pissoir pinkelt und das Leben, die Schwerkraft, die Naturgesetze selbst nicht in Frage stellt? Die Rekonstruktion des umstürzlerischen Verhaltens war teilweise ein kostümiertes Remake der existentialistischen Nachkriegsjahre, das den Mangel an eigener Aktivität durch Nostalgie und sture Zitate aus einer anderen Zeit kompensierte. Ein Motto für das Szenische dieser Tage – »Revolution: Bewegung von etwas Beweglichem, das, einen geschlossenen Kreis beschreibend, nacheinander dieselben Punkte berührt« – gibt das Larousse-Wörterbuch. Claude Simon, der alldem skeptisch gegenüberstand, hat diesen Satz seinem Roman Der Palast vorangestellt, der während der anarchistischen Tage in Barcelona spielt. Die Revolution und die Geschichte lösen sich hier für den Betrachter in Tausende Einzelmomente auf, in einen

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