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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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wurde sogar zu einem besonders beliebten Angriffspunkt, brachte es doch statt einer Sozialisierung der Kunst, dem Lieblingsthema des Pariser Mai, angeblich nur eine etwas breitere Definition des Besitzes mit sich. Zum großen, begüterten Sammler, der sich den Luxus des unwiederholbaren Einzelwerks leisten kann, der einen nur für ihn reservierten Genuss erwirbt, gesellte sich eine neue Sammlerkategorie: die der Pseudooriginale, die dem Neid entgegenwirken sollten. Überall konnte man zusehen, wie Intellektuelle auf verzweifelte Weise mit Arbeitern ins Gespräch zu kommen suchten. Deren Teilnahme an den Diskussionen sollte eine Art soziale Legitimität liefern. Die Dialoge, die man auf der Straße mitbekam, enthielten immer wieder Sätze wie: »Wenn ich das und das sage, meine ich damit das und das.« Es war der Versuch einer Aneignung der Welt durch die Sprache, der Bewältigung der politischen und gesellschaftlichen Realität als sprachlich bestimmte Gebilde. Daneben nistete sich eine Angst vor Wörtern ein, eine Angst, die Wörter könnten schnell zu wertlosen Assignaten werden. Kein Wunder, dass es auf einer Stufe der Gespräche, bei der es um die Stellung des Rundfunks und Fernsehens ging, zu keiner Entscheidung kommen konnte. Sie platzten, wie es in Le Monde hieß, »aus der Angst vor den Wörtern«. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten tauchte bereits in den ersten Tagen selbstverständlich Aragon auf. Er war davon überzeugt, alle hätten auf ihn, den eminenten geachteten Tribun, gewartet. Doch man fand seinen Auftritt absolut lächerlich und buhte ihn aus. Und der Barde der Revolution machte sich schnell wieder aus dem Staub. Die Zurückweisung hatte ihn offensichtlich getroffen. Dies zeigte sich später während eines Mittagessens bei ihm zu Hause. Ich war davon überzeugt, dass Aragon, der in seinen frühen Büchern die Evokation einer unendlich zerbrechlichen Momentaufnahme so bestechend präsentiert hatte, jetzt im Alter diese ekstatische Phase seines Lebens in den Mittelpunkt rücken würde. Doch begegnete er meiner Frage danach mit einer Kälte und mit einem Argwohn, die mir zunächst als unnatürlich, als gespielt erschienen. Er antwortete, und dies hing sicherlich mit seiner Enttäuschung von der Art und Weise, wie er während des Mai 68 behandelt worden war, zusammen: »Ich verstehe retrospektive Sentimentalitäten nicht. Da rief mich neulich, kurz bevor ich in die Ferien nach Toulon fuhr, Cohn-Bendit an, und glauben Sie mir, wenn sich da einer in Nostalgie und Zeitenklage verzehrte, dann war er es und nicht ich.«
    Unerträglich kam mir die Verehrung für den Soziologen Henri Lefebvre vor, deren Zeuge ich wiederholt im Odéon wurde. Seine mundgerechte libertäre Einstellung forderte unter allgemeinem Jubel die Abschaffung von Staat und Zentralgewalt. Stärker konnte man kaum gegen das demokratische Selbstbewusstsein der Nation verstoßen, gegen ihren Glauben an die republikanische Ordnung. Jeder hielt an seinem Wort fest, an seinen Argumenten, die er wie einen Besitz von einer Diskussionsrunde zur nächsten mitschleppte. Doch in der Sprache lagen die Grenzen. Ihre Handhabung blieb, soweit sie ethische und gesellschaftliche Bestimmungen betraf, absolut der Vergangenheit verhaftet. Man hörte wortwörtlich die Argumente der Kommune wieder. Nach kurzer Zeit hatte sich die Rhetorik der Revolution etabliert. In den letzten Tagen der Studentenrevolte, als die Sorbonne es für richtig befand, sich selbst zu klistieren, gab es einen winzigen, aber bezeichnenden Zwischenfall auf der Ebene der Sprache. Über Lautsprecher forderte das Aktionskomitee der Universität dazu auf, die Sorbonne zu räumen, und bat um Mithilfe bei dem Vorhaben, einige »radikale, unverbesserliche Grüppchen« an die Luft zu setzen. Das waren die Worte, mit denen der Innenminister zu Beginn die Massen auf den Straßen charakterisiert hatte. Die Säuberung der Sorbonne endete also mit den Worten derjenigen Autorität, die die libertäre Gesellschaft, die keine Zentralgewalt duldete, abschaffen wollte. Die Tatsache, dass man aus dem Odéon am Jardin du Luxembourg abzog, dass die Sorbonne sich freiwillig von den Insignien und Exkrementen des Aufstands befreite, genügte vielen als Anlass, alles sehr schnell zur Vergangenheit zu zählen. Man hatte sich zu sehr auf das Äußerliche, das Wort und das Spektakel, verlassen. Von Anfang an übernahmen Anarchisten und kommunistische Dissidenten – Trotzkisten, Maoisten, Fidel-Castro-Anhänger –

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