Mein Glueck
barocken Wortschwall. Simon fasst beide durch eine oppositionelle Sprache, die im Präsens bleibt, die sammelt, anhäuft und denjenigen, der die Geschichte fassen will, mit Gleichzeitigkeit narrt. Nur der Wunsch, dass sich ein Erleben stärker als ein anderes zu einem geschichtlichen Knoten zusammenschnürt, gibt uns Gesten, Reden und Bewegungen ein, bringt vorübergehend unseren historischen Tastsinn in Gang. Sich dort niederzulassen, wo Geschichte sich stellvertretend abzuspielen scheint, ist das nicht eine Chance, sich selbst, seinem eigenen banalen und unübersichtlichen Schicksal zu entkommen? Der Aufruhr auf den Straßen, die Streiks brachen plötzlich ab. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich am 29. Mai die Nachricht, de Gaulle sei verschwunden. Keiner war eingeweiht, auch nicht der Premierminister Pompidou. Immer wieder glaubte man in der Ferne Panzer und Flugzeuge zu hören. Erst später erfuhr man, dass de Gaulle für einige Stunden nach Baden-Baden zur französischen Kommandantur, zu Massu, geflogen war, um sich der Solidarität der Armee zu versichern. Ein enormes republikanisches Defilee auf den Champs-Élysées beendete den Aufruhr. Das Militär sorgte dafür, dass alle Tankstellen von einem Tag auf den anderen mit Benzin versorgt wurden. Die Pariser konnten aufs Land und in die Pfingstferien fahren. Wie ein Spuk verschwanden die Unruhen. Niemand sprach auf der Straße mehr mit anderen. Es war an der Zeit. Denn ein beängstigender Konformismus hatte sich anstelle der freien Meinungsäußerung breitgemacht. Jeder bekam das rote Mao-Büchlein, und Mao und Castro waren zu den unerträglichen Heroen der Zeit geworden. Wer reiste damals nicht nach China und brachte von dort nicht die immer identischen Heilsnachrichten mit nach Paris? So gut wie alle Freunde von Tel Quel hatten sich auf den Weg gemacht. Irgendwie hofften sie damit auf die einzige Absolution, die sie trotz ihrer bourgeoisen Herkunft erwarten konnten. Man lauschte den Erzählungen der Chinareisenden, die offensichtlich alle auf einem gespurten, genau markierten Weg dieselben Städte, Betriebe und Schulen kennenlernten. Und gerührt erfuhr man von chirurgischen Eingriffen, die ohne Anästhesie durchgeführt werden konnten, und von der Ehrlichkeit der Menschen, die dem Touristen tagelang eine verlorene Sicherheitsnadel hinterhertrugen.
Es waren aufregende und abwechslungsreiche Jahre, die ich erlebte, mit immer neuen Begegnungen. Ich hatte jedoch dabei mehr und mehr das Gefühl, dass mein Leben sich weitgehend in der Beobachterperspektive abspielte. Sicher, der Umgang mit den Autoren, die Texte, die sie mir anvertrauten, die Artikel und Aufsätze, die ich in der Zeitung publizierte, das war nicht uninteressant. Aber letztlich befriedigte mich dies alles nicht. Es kam mir vor, als sei ich dabei immer Ministrant geblieben. Zu sehr lebte ich davon, die anderen zu bewundern und zu bedienen. In meiner Vorstellung führte ich ein ausgefranstes Leben. Ich brauchte mehr, stärkere Passionen und Aufgaben. Der Vorschlag Werner Haftmanns, der mich in Paris besuchte und mir antrug, doch zu ihm an die Nationalgalerie in Berlin zu kommen – mit dem Hinweis, dann könnte ich auch eines Tages sein Nachfolger werden –, schmeichelte mir. Ich hatte damals dafür gesorgt, dass Max Ernst den Originalgips seiner monumentalen Skulptur »Capricorn«, der, in mehrere Teile zerlegt, in der Gießerei Susse in Arcueil deponiert war, als Geschenk nach Berlin gab. Max hatte mich gefragt, was er mit dieser Arbeit machen solle. Der Gießer hätte ihn gebeten, ihn in der Werkstatt in Arcueil abholen zu lassen. Ihn zerstören, fand er, wäre vielleicht etwas schade. Ob ich jemanden wüsste, dem er die Arbeit überlassen könnte. Mein Vorschlag der Nationalgalerie Berlin gefiel ihm. In seiner grenzenlosen Generosität schlug er sogar vor, auch noch einen Guss für Berlin herstellen zu lassen. Monique war strikt dagegen, dem Ansinnen Haftmanns zu folgen und Paris zu verlassen. Sie meinte, in Berlin bliebe sie mit den Kindern in der Stadt eingesperrt und ich würde herumreisen. Auch Max Ernst und Kahnweiler baten mich inständig, diesen Vorschlag abzulehnen. Sie wollten, dass ich in ihrer Nähe bleibe.
In den siebziger Jahren hatte man damit begonnen, das künftige Centre Pompidou vorzubereiten. Das war eine anregende Aufgabe. Immer wieder erzählten mir Pontus Hulten, Germain Viatte und Malitte Matta vom Fortgang ihrer Arbeit, und sie luden mich ein, bei der Vorbereitung ab und
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