Mein Glueck
lebten. Ich habe diese Begegnung nie vergessen können. In ihr zog sich für mich all das Böse zusammen, das in diesem Land von den Deutschen ausgeübt worden war. Ich traf einen Mann, über dem das Schild »Überleben verboten« zu schweben schien. Hanna Kralls bestürzendes Buch Eine ausnehmend lange Linie , das den Aufstand und die Vernichtung des Ghettos schildert, verbinde ich mit Pinkus Szenicer. Der zynische Titel der Erzählung verweist auf die Lebenslinie, die immer wieder auf unerbittliche Weise abrupt zerrissen wird. Krall beschreibt dies mit eisiger Emotionslosigkeit: »Die Deutschen begleitete ein Jude, Grajer mit Namen. Er hielt eine Peitsche in den Händen, so wie die SS-Männer. Von Zeit zu Zeit wies er auf jemanden, der ausgesiedelt werden sollte. Er berührte seinen Arm mit der Peitsche und sprach auf Jiddisch einen Satz, jedes Mal denselben: Kamerad, steht auf, du hast genug gelebt.« Die von den polnischen Konservatoren sorgfältig eingerichtete Ausstellung zu Max Ernst konnte nie eröffnet werden, die Pressekonferenz, die Vernissage und mein Vortrag am Montag, dem 7. Dezember, wurden abgesagt. Nur wenige Tage danach rief General Jaruzelski das Kriegsrecht aus. Panzer und schweres Gerät fuhren in der Stadt auf.
Als man mir den Auftrag für die Ausstellung »Paris–Berlin« übertrug, meinten die Verwaltung des Hauses und Pontus Hulten, es bleibe keine Zeit, an einen Katalog zu denken. Aber ich könnte doch als Ersatz eine Anthologie mit Illustrationen zusammenstellen und einige Zwischentexte schreiben. Ich sagte daraufhin sehr bestimmt, dass ich unbedingt einen umfangreichen Katalog zum Thema herausbringen wolle. Es gebe so viel zu erklären, das einzigartige Archivmaterial, die Briefe und Texte der Künstler, Schriftsteller, Architekten, Designer, Filmemacher und Musiker sollten sich zu Wort melden können. Die Autoren, an die ich mich wandte, lieferten in Windeseile oft sehr beachtliche Beiträge. Zu denen, die Vorschläge machten oder die auf unsere Themenvorschläge eingingen, zählten Hanne Bergius, Eckhart Gillen, Günter Metken, Eduard Beaucamp, Max Imdahl, Eberhard Roters, Uwe M. Schneede, Serge Lemoine, Herbert Molderings, Eckhart Gillen, Krisztina Passuth, Raimond Guidot, Chantal Béret, Wolfgang Pehnt, Paul Virilio, Eckhard Neumann, Christian Borngräber, Jacqueline Costa, Peter Hielscher, Jean-Michel Palmier, Bernhard Zeller, Lionel Richard oder Serge Fauchereau. Alle müssen genannt werden, denn die Ausstellung war das Ergebnis einer gemeinschaftlichen Arbeit, bei der jeder den anderen stützte und herausforderte. Die wunderbare Lotte Eisner schrieb einen Beitrag über den expressionistischen Film und machte Vorschläge für das Filmprogramm, das die Ausstellung begleitete. Und ich verstand, dass Werner Herzog, um die kranke Lotte zu retten, im November 1974 aus München zu Fuß nach Paris zog. Sein Tagebuch Vom Gehen im Eis bleibt eine der berührendsten Bitten um ein Wunder. Chris Marker lieferte uns eine musikalische Montage, die eine Partie der Ausstellung in eine soghafte Stimmung hüllte. Wir trafen uns zu gemeinsamen Diskussionen, bei denen das Konzept verfeinert und vereinfacht wurde. Alle spürten, dass nicht nur mit dem Inhalt, sondern auch mit der Präsentation von »Paris–Berlin« Neuland betreten werden sollte. Deshalb stand auch schnell die Szenographie der Ausstellung im Vordergrund. Und hier erwies es sich, dass das Centre Pompidou weltweit mit Abstand als das großartigste und flexibelste Haus für Ausstellungen gelten kann. Für jede Schau wird eine neue Architektur entworfen. Dafür ist jeweils ein Teil des Ausstellungsbudgets reserviert. Das hat einen außergewöhnlichen Effekt, und es kommt zu einer unverwechselbaren Verbindung von Ort und Inhalt. Die Erinnerung an eine Ausstellung bleibt wie sonst nirgends an die eigens dafür konzipierte Veränderung der Räume gebunden.
Niemand in Frankreich kannte die Expressionisten, und ich muss gestehen, ich selbst hatte mich zuvor kaum mit dieser ausdrucksstarken Malerei anfreunden können. Die Ausstellungen, die versuchten, Fauves und Brücke-Expressionismus zusammen zu zeigen, waren ein Desaster. In Paris interessierte man sich nur für die Datierungen, und im Zeitlichen hingen die deutschen Künstler hinterher. Nie wurde der Versuch unternommen, die jeweilige Mentalität und die völlig andere politische Entwicklung für die Klärung der Unterschiede heranzuziehen. Auch mein Blick war irgendwie zu französisch
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