Mein Glueck
Tardieu, Nina Kandinsky, Juliette Man Ray, Chris Marker, E.B. Kornfeld erlebten die Ausstellung wie eine Auferstehung. Ich kann hier nur diese wenigen nennen. Der Besuch bei Hannah Höch, die seit Jahrzehnten in Heiligensee, an der Wildbahn Nr. 33, lebte, führte mich in ein Labyrinth, das etwas von der köstlichen Farce ahnen ließ, mit der ihr großer Freund Ernst Schwitters in Hannover seinen Merzbau füllte. Sie wohnte in einem kleinen Haus, das ein zauberhafter Garten, um den sie sich mit einer wahren Passion kümmerte, umgab. Man hatte den Eindruck, der Rasen und das Gesträuch hätten auch auf das Häuschen übergegriffen und es verkleidet. Die agile kleine Dame mit dem strenggeschnittenen Bubikopf besaß einen Erinnerungsschatz, den sie ständig mit neuen Dokumenten und ihren Tagebüchern illustrieren konnte. In wunderbaren Briefen, die sie mit ihren »Minis«, winzigen Collagen und Zeichnungen, anreicherte, gab sie weitere Informationen. Nur manche Arbeiten ihrer Freunde aus der Dada-Zeit, meinte sie, hätte ihr ein amerikanischer Soldat, der sich bestens über diese Schätze informiert zeigte, gegen Zigaretten abgeluchst. Sie wüsste nicht, was Heinz Berggruen später mit diesen Juwelen angefangen habe. Auch Andrej Tarkowski und Elia Kazan oder Jean-Claude Carrière, die ich von Treffen und Abendessen bei Anatol Dauman kannte, waren von »Paris–Berlin« begeistert. Kazan, der sich sonst sehr neidisch gebärdete, überschlug sich vor Lob über die Ausstellung. Für ihn, wie für zahlreiche Emigranten, galt sie als eine historische und emotionale Sternstunde. Im Hause von Dauman, einem geistreichen und schlagfertigen Zyniker, der wie kaum ein anderer Produzent hochmütig und stolz alles dem Autorenfilm opferte und dem wir Nagisa Oshimas »Im Reich der Sinne« und Wim Wenders’ »Der Himmel über Berlin« verdanken, traf ich auch Andrzej Wajda, der mich einlud, ihn in Warschau zu besuchen. Dafür fand sich bald eine Gelegenheit. Ich hatte dort im Dezember 1981 in der Nationalen Kunstgalerie Zachęta eine Ausstellung von Graphiken und Büchern Max Ernsts organisiert, die ich im Auftrag des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart zusammengestellt hatte. Die Intellektuellen, die man in Polen vor Ort traf, freuten sich auf dieses unerwartete Ereignis. Wajda holte mich zum Ausgehen im Hotel ab. Er erzählte von seinem nächsten Film. Es sollte ein Film über Danton werden, über den Mann, der den Terror überwinden will, weil er ihn kennt. Es sei notwendig, so Wajda, das Beispiel eines »indulgent«, eines Nachsichtigen, vorzuführen. Er kommentierte damit die bedrohliche Situation im eigenen Land. Wir ließen uns als beinahe einzige Gäste in einem sehr gemütlichen Restaurant nieder. Wajda orderte Wodka und Kaviar. Doch es gab weder das eine noch das andere. Schließlich bekamen wir, weil der Filmemacher dort ein berühmter Stammgast war, wenigstens Schwarzbrot, Bier und dicke Salzgurken. Überall in der Stadt traf man auf Fülle ex negativo: Zu Tausenden bildeten die Menschen in der Kälte schemenhafte Schlangen vor den weihnachtlich aufgeputzten Schaufenstern. Wo haben wir übersatten Westler schon einmal Gelegenheit, die Struktur des Leeren zu sehen: Hunderte blitzende Haken in den Fleischerläden, Hunderte leere Regale. In vielen Gesprächen in der Stadt wurden Verzweiflung oder Hass laut: Es werde bereits in den Außenbezirken geschossen. Ich besuchte das Mauzeleum Walki i Meczénstwa, Pawiak, Denkmal der Ghettohelden, ein immenses »Zeige deine Wunde« – die Stadt links und rechts der Weichsel ist mit Gedenkstätten reich versorgt.
Und ich fuhr zum Cmentarz Żydowski, zum jüdischen Friedhof, dem einzigen Platz, der nicht wieder aufgebaut werden musste, Schnee, Einsamkeit, fette Raben auf den kahlen Ästen und auf den torkelnden Grabsteinen der geplünderten Gräber. Dieser Ort ist menschenfrei. Ein alter Jude, den nur wenige Jahre vom Tod trennten, stand dieser Grabesruhe vor. Pinkus Szenicer verwaltete eine absolute Tristesse. Der Fotograf Chuck Fishman hat ihn in seine berührende Publikation aufgenommen, die er den wenigen überlebenden Juden in Polen widmete. Falls ich im Ausland Menschen kenne, die ihre Toten suchten, so sei er wohl in der Lage zu helfen. Man möge sich an ihn wenden. Und ich notierte die Adresse: Pinkus. Warszawa, ul. Spasowskiego 7 m. Es war zu befürchten, dass es in Polen bald noch andere Adressen von Friedhofswärtern geben würde, die von der Betreuung toter Seelen
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