Mein Glueck
diskutierten, konnten die Franzosen sich in einem selbstverständlichen Bereich von Kunst aufhalten.« Die Ausstellung überraschte, sie zeigte, dass es in dem Nachbarland, das bisher – außer im Bereich von Musik und Philosophie – in einer ungewissen, im Grunde ethnologischen Ferne existierte, viel zu entdecken gab. Alle waren gespannt, den unbekannten Kontinent jenseits des Rheins kennenzulernen. Was sich dort abgespielt hatte, musste vielen Franzosen fremder vorkommen als das Geschehen in Afrika. Dort besaß die Republik wenigstens Kolonien. Doch nichts lockt die Franzosen mehr als das Neue. Seit dem Lateinunterricht wissen wir ja, dass bereits Cäsar schrieb, der Gallier sei »novarum rerum cupidus«. Mein Freund Jean Clair machte kurz nach »Paris–Berlin« eine vergleichbare Erfahrung. Die Ausstellung »Wien«, die er kuratierte, war auch mehr als eine Ausstellung, beide Schauen waren eine Erfindung und zugleich Aufforderung, das Nichtwissen und die Vorurteile auszurotten. Die Kritik unterstrich dies. Michel Foucault schrieb in einem Beitrag, der im Spiegel erschien, »Paris–Berlin« sei der Beweis des 20. Jahrhunderts. Das Wort vom »Psychodrama einer Nation«, das ich im Katalog verwendet hatte, machte die Runde. Le Monde schrieb: »Die Summe der Unkenntnis, der Missverständnisse, der gegenseitigen Gereiztheit, der bitteren Ressentiments auf der einen Seite, der Verachtung und der hochmütigen Ignoranz auf der anderen, die die Geschichte beider Länder in der jüngsten Epoche kennzeichnen, machte es tatsächlich eines Tages notwendig, wenn schon nicht den Abszess aufzuschneiden, so doch zumindest das Dossier zu öffnen: den Menschen guten Willens die Möglichkeit anzubieten, sich kennenzulernen in ihrer unvermeidbaren und heilsamen Unterschiedlichkeit.« Was hier zu erleben und zu entdecken war, passte in keine Klischeevorstellung mehr. Ich erinnere mich an den letzten Tag. Keiner wollte am 6. November die Säle verlassen. Und Simone Veil, die nach Auschwitz deportiert worden war, sagte mir, sie sei siebzehn Mal gekommen, um sich von diesem Deutschland ein Bild zu machen. Und sie zeigte sich bedrückt und bewegt. Regelmäßig wurde sie dabei von Claude Pompidou begleitet, die keinen Tag ausließ, um einen Gang durchs Centre Pompidou zu machen. Es ist vielleicht mehr als ein Zufall, dass zwei Ereignisse in diese Zeit fallen, »Paris–Berlin« und der »Jahrhundert-Ring« von Boulez und Chéreau in Bayreuth. Beide haben die Sehgewohnheiten und die Rezeptionswilligkeit des Nachbarn zunächst strapaziert und dann auf unwiderrufliche Weise erweitert. Ich sagte dies später Pierre Boulez, der Monique und mich für Bayreuth mit Karten versorgt hatte. Er fand diese Parallele interessant und spannend. Sie bewegte ihn, weil sein Part, als Direktor des IRCAM im Centre Pompidou, auch bei der Vorbereitung von »Paris–Berlin« entscheidend gewesen war. Dieses Bayreuth blieb im übrigen für mich eine nachhaltige Erfahrung. Was Chéreau hier bot, erscheint mir als unüberschreitbarer Höhepunkt des Regietheaters, und zugleich errichtete er mit seiner Inszenierung einen Sperrzaun, einen undurchdringlichen Kreis aus Feuer gegenüber vielem, was sich daran anhängen wollte.
In den letzten Tagen besuchten auch Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt zusammen die Ausstellung »Paris–Berlin«. Sie spürten ganz offensichtlich den politischen Gewinn für die Beziehungen zwischen beiden Ländern. Kurze Zeit danach lud mich der Kanzler zu einem Besuch nach Bonn ein. Es kam zu einer Diskussion, die mich beeindruckte. Was er über die Bedeutung der Annäherung der beiden Länder zu sagen hatte, war überaus klar und voller Erwartung. Er schlug mir vor, für ein kommendes deutsch-französisches Gipfeltreffen, das im Sommer 1980 in Bonn stattfinden sollte, eine Ausstellung zu Ehren von Giscard d’Estaing und der französischen Delegation in den Räumen des Bundeskanzleramts zu organisieren. Als ich zum Thema Max Ernst vorschlug, überraschte ihn dies keineswegs, und er stimmte sofort mit Freuden zu. Wunderbare, bedeutende Leihgaben aus Museen und Privatsammlungen kamen zusammen. Dazu gehörten »Die Versuchung des Heiligen Antonius« und »Das Sonnenrad«, die größte und beeindruckendste kosmische Vision, von der sich Basler Freunde für die Ausstellung trennten. Bei der Auswahl hatte ich einen Hintergedanken. Dem Centre Pompidou war zur Begleichung der Erbschaftssteuer auch das Bild »Le Jardin de la France«
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