Mein Glueck
»Valentin war für mich das deutsche Genie, der Picasso der Deutschen.« Mit ihm sei er viel zusammen gewesen, und er meinte: »Er war ein bauernschlauer Intellektueller.« Seine frühen, aufmerksamen Äußerungen über Warhol fand ich außergewöhnlich. Er erkannte, dass mit ihm der amerikanischste Künstler aufgetreten sei: »Was Warhol anfangs machte, war phantastisch. Er war der einzige, der aus dieser Zeit eine Message gemacht hat. Für die ganze Welt. Alles wird aus Masse gemacht. Es gibt keine Haute-Couture mehr, keine Schlösser mehr und keine Ferien für den einzelnen.« Dieses Leben im Augenblick genoss Lindner in New York. Doch fügte er hinzu: »New York ist vielleicht bald vorbei. Ich habe ja immer gesagt, wenn Amerika eine Vergangenheit, eine Geschichte bekommt, ist es vorbei. Jetzt fängt dies langsam an.« Als Richard dann später in Paris, zunächst an der Place Furstenberg im obersten Geschoss gegenüber dem Delacroix-Museum und dann in der Rue des Saints-Pères, eine Wohnung genommen hatte, trafen wir uns regelmäßig. Er hatte sich einen Rolls-Royce zugelegt und zerbrach sich den Kopf, wie er als Stadtmensch den Fahrer beschäftigen könne. Denn von größeren Landpartien hielt er nichts. Regelmäßig rief er mich im Hochsommer, wenn die Stadt wie ausgestorben war, in meinem Pariser Vorort an und fragte, ob ich nicht den Wagen brauchen könne. Einige Male ließ ich mich dann zu Richard in die Stadt chauffieren. Er war in Paris auf andere Weise nostalgisch und glücklich als in New York. Er brauchte Europa. In den Restaurants saßen wir Stunden zusammen, erfreut, am Nebentisch David Hockney zu sehen und mit ihm zu plaudern. Seine junge Frau Denise schenkte ihm Lebenslust. Er bewunderte sie und hielt sie für den wohl intelligentesten Menschen, dem er je begegnet war. Nicht zuletzt weil sie uns und Hockney in der »Closerie des Lilas« mit aller Insistenz erklärt hatte, dass die normale Lebenserwartung eines Mannes heute – und das hätten genaue und sichere wissenschaftliche Untersuchungen ergeben – ungefähr hundertfünfzig Jahre betrage. In Paris brachte ich Richard eines Tages, im frühen Herbst 1974 , auch mit Max Ernst zusammen. Beide Männer sahen sich nach langen Jahren erstmals wieder. In der New Yorker Zeit, da die Emigranten in Manhattan herumsaßen, hatten sie sich, wie sie sich erinnerten, hin und wieder getroffen.
Doch habe dies, berichtete Lindner, mit einer Affäre geendet, über die er lange unglücklich gewesen sei. Er war zu einer Abendgesellschaft in Begleitung einer wunderschönen jungen Frau erschienen. Diese sei, kurz nachdem Max den Raum betreten hatte, mit diesem weggegangen und habe ihn einfach sitzenlassen. Beide genossen ihre Wiederbegegnung in Paris, und sie tauschten nach einigen Treffen auch Arbeiten aus. Max überreichte Richard eine Collage, für die er, wie er sagte, aus einem echten Orden des Kronprinzen einen Strumpfhalter gemacht habe. Und Richard übergab Max eines seiner flammenden Aquarelle, in denen er zu seiner Ausgangsfaszination, zum Kubismus, zurückgekehrt war. Es war der Kubismus von Fernand Léger, den Lindner verehrte und mit dem er häufig in New York zusammen gewesen war. Ein metallischer, farbenfroher Kubismus, der wie das blecherne Spielzeug aus der Stadt der »Eisernen Jungfrau« aus separaten Teilen montiert zu sein scheint. Die Gesichter, die Leiber, die er darstellt, lassen sich nicht besitzen. Man hat den Eindruck, dass sie unter dem leichtesten Zugriff zerfallen müssten. Als habe Lindner sie aus Fertigteilen lose montiert. Das verbindet seine Kreaturen mit der Welt der Science-Fiction, in der sich Hoffmanns »Olimpia«, Langs »Metropolis«, der lügnerische, von Rotwang fabrizierte Klon einer falschen »Maria« mit Duchamps steriler Junggesellenwelt liieren. Die Erinnerung an die Folterinstrumente, die die Meister von Nürnberg ersonnen hatten und von denen er mit spürbarer Erregung sprach, prägen zahlreiche Werke Lindners, und die verhängnisvolle Anziehung, die Lulu, Lilith, Judith und alle männermordenden Femmes fatales auf den Maler ausübten, bildeten ein endloses Gesprächsthema. Er führte mit seiner Memoirenkunst in New York ein Genre ein, das sich offen und provokant gegen den amerikanischen Puritanismus stellte. Was er anbot, erhob sich gegen die Geschichtsprüderie, die Amerika in der Nachkriegszeit von der anthropologischen Gefährdung freispricht, der Europa verfallen war. Dies war im Grunde der entscheidende Inhalt
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