Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
Vom Netzwerk:
Scanner untersuchen, greift auf Typologisches und Klischees zurück. Das beschäftigte ihn auch, wenn er zu uns in den Vorort im Süden der Stadt kam. Hier entdeckte er Abweichungen, die er in seiner gewohnten städtischen Umgebung so nicht fand. Er reagierte darauf wie Nathalie Sarraute, die jedes Mal erstarrt an unserem Haus die »Meulière«, das typisch kieselhaltige Sedimentgestein, studierte, das in ihren Büchern für die ununterscheidbare Langeweile der Banlieue steht. Dieser Bezirk kam dem Städter stumpf vor. Er begibt sich von alters her nur mit einem leichten Gefühl des Grauens hierher. In dieser unbestimmten Zone, in der alles gleich erscheint, in der das Erlebnis von Auswechselbarkeit den, der hier eindringt, dem Schrecken unkontrollierbarer Wiederholung aussetzt, in diesem Brachland von Geschichte und Ereignissen kommt ein einzelnes Haus nur dann ins Bewusstsein, wenn sich in ihm etwas abspielt, das Leben scharf belichtet, indem es Leben nimmt: Da liegen die Schauplätze für das »fait divers« , für das Verbrechen oder das Unerhörte, die mit einem Schlag die Kausalität des Alltags unterbrechen und aus der Fülle dieser Häuser ohne Geschichte eines herauswürfeln. Den Riss zwischen Paris intra muros und seiner Banlieue haben wenige überwunden oder gar in diesem außerordentlichen Kontrast eine Aufforderung entdeckt.
    Der Meister auf diesem Felde bleibt in meinen Augen Peter Handke. Eines Tages meinte er sogar: »Ich werde nicht mehr nach Paris kommen.« Wenn er stundenlang aus seiner Banlieue in unsere Banlieue wanderte, versetzte er sich in eine Stimmung, die niemand sonst so einzigartig zu erleben vermochte. Vielleicht mit einer Ausnahme. Raymond Queneau in Loin de Rueil oder in Zazie dans le métro hat im Gegensatz Stadt und Vorstadt ein Symbol für das gefunden, was er in seinen Büchern überwinden wollte, die Segregation von Hochsprache und gesprochener Sprache. Um sich eine Vorstellung von der Präzision zu machen, mit der Sempé den Zeitgeist erkundet, genügt es, Bücher aus verschiedenen Perioden des Werks in die Hand zu nehmen. Fabelhaft, wie die politischen, soziologischen und literarischen Launen des jeweiligen Zeitabschnitts erkennbar werden. Niemand hat wie er auf derart prägnante Weise das Gerede, die Werbesprache der Saison, die Modekrankheiten des Jahres ermittelt und registriert. Wo man sie am wenigsten erwarten würde, bin ich auf eine Ausnahme gestoßen: bei Picasso. Er hat sich nie in Zeichnungen der Aktualität zugewandt, die er doch auf den Pariser Terrassen ständig vor Augen hatte. Plötzlich, in den fünfziger Jahren, tauchen bei ihm Skizzen auf, die Konkretes erkennen lassen: Brigitte Bardot mit ihrem Pferdeschwanz, das junge Mädchen mit dem kurzen Röckchen. Man sieht, dass er hier im »Café des Deux Magots« mit einem Schlag, für kurze Zeit, den Blick für die Außenwelt geöffnet hat. Bei Sempé offenbart sich der extrovertierte Blick in den köstlichen Bildlegenden, die die Zeichnungen begleiten, aber ebenso deutlich im Outfit seiner Figuren, in den Kleidern, Frisuren und Accessoires, die er peinlich genau dem datierbaren Moment entnimmt. Er übersieht nichts. Das war die Lehre, die man von ihm empfing. Wenn man neben ihm im Restaurant oder Café saß, hatte man das Gefühl, geradezu blind zu sein. Er vermochte die Unsichtbarkeit zu sehen und zu offenbaren. Wie bei Daumier tritt als Korrektiv zum Typologischen der ständig neue, erstaunte Blick auf die Außenwelt. Das Modische, rasch Überholte, eben das, was in Baudelaires Sinn den Maler des modernen Lebens ausmacht, tritt neben die Charakterstudie oder die physiognomische Norm. Die Figuren, die Sempé dabei vorführt, pendeln zwischen dem anonymen Menschen in der Menge und der Rechthaberei, zu der die geschlossene Gesellschaft oder der soziale Clan animieren. Stets versucht er Verhaltenscodes zu knacken, und dies führt zur Bloßlegung trügerischer autistischer Rechthaberei, die wir auf so prägnante und komische Weise sonst nur noch aus den Dialogen Woody Allens kennen. Kein Wunder, dass Sempés Blätter, die regelmäßig im New Yorker erscheinen, diese Sensibilität für das Lächerliche und Verfehlte auf eine amerikanische, schließlich globale Ebene ausweiten. Tomi Ungerer, den ich erst spät kennenlernte, forderte mich am heftigsten auf, die fälschlicherweise gesetzte Grenze zwischen Kunst und Illustration zu ignorieren. Keiner hat mich dabei so entschieden auf dieses in eine unbekannte Weite

Weitere Kostenlose Bücher