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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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sozialen Verhalten entwirft, sondern auch am narrativen Reichtum, der seinen Stil auszeichnet. Mit dem ersten Blick erfasst man die Blätter nicht. Er hat eine Fülle von Atmosphärischem eingefangen. Ob er sich Paris – und hier im Grunde ausschließlich seinem Quartier um Saint-Germain-des-Prés –, der französischen Provinz oder dem Gegenbild Manhattan zuwendet, immer gelingt es ihm, die Szenen durch genaue, sprechende Details zu charakterisieren. Er versteckt das Lachen und seine Moral der Geschichte im Dickicht der Städte, in entseelten Büros oder in disproportionierten Interieurs. Als Gepäck brachte er neben seiner Begabung, die es ihm erlaubte, als Zeichner für Zeitungen und Zeitschriften seinen Lebensunterhalt zu sichern, eine frühe Faszination aus Bordeaux mit: die Lektüre von Flaubert und das Album All in live von Saul Steinberg. Dass es ihm Flauberts Novelle Un cœur simple ( Ein schlichtes Herz ) angetan hat, können wir aus der Rückschau verstehen: wird doch die Hauptperson Félicité von den Usancen und von der Ausstattung des Haushaltes so sehr aufgesogen, dass sie sich selbst in einen Teil dieses Mobiliars verwandelt. Das ist die Atmosphäre, in der auch die Figuren Sempés leben. Es sind Zwitter aus Körper und Gegenstand. Um das Eigene des Zeichners zu erfassen, genügt es, die ersten Zeichnungen und Bücher mit den politisch bissigen Cartoons zu vergleichen, die ansonsten in den sechziger Jahren entstanden. Der Unterschied zeigt sich auch im Stil.
    Der Zeichner greift so gut wie nie zur springenden, heftigen Rohrfeder, er strichelt subtil, arbeitet mit feinen Überschneidungen, in denen etwas von der Nervosität eines Pascin oder George Grosz anklingt. Man sieht den Blättern an, dass sie die Geschwindigkeitsüberschreitung als Mittel der Inspiration einsetzen. Im Laufe der Jahre treten die berühmten zyklischen Bücher in den Vordergrund, in denen es nicht um Illustration, sondern um die schrittweise Verfertigung einer epischen Stimmung geht. Man kann, um diesen Zeichner vom Wust all derer zu trennen, die nur zum Lachen bringen wollen, an die scheue Reserviertheit eines Jean Tardieu oder eines Jacques Tati erinnern. Neben Tardieus Monsieur Monsieur , neben Tatis »Monsieur Hulot« tritt der Homo Sempé. Hier und dort wird der Topos des Inkongruenten, des Täppischen, des Unverhältnismäßigen zum entscheidenden dramaturgischen Mittel. Unfehlbar stoßen eigentlich nicht kompatible Welten und Verhaltensweisen aufeinander. Dazu gehören konzis erfasste Stellungen der Leiber, vestimentäre Ticks, Neurosen und Redeweisen. Man merkt dies, sobald man mit ihm zusammen ist, spürt, wie er plötzlich ein Detail observiert, eine Konversation aufschnappt, die zu einer Zeichnung führen. Er sieht die Stadt und das soziale Geflecht wie sonst nur noch Woody Allen. Diesen Blick, der neben dem scheinbar Offenkundigen immer eine kleine Verzerrung entdeckt, versuchte ich mir, wo immer möglich, zu eigen zu machen.
    Erstmals kam mir dieses Verlangen, als Woody Allen als Klarinettist mit seiner New Orleans Jazz Band im Théâtre des Champs-Élysées auftrat. »Come on and stomp, stomp, stomp«, das Bein stampft, Woodys Leib verwandelte sich bis über die Hüfte in ein fanatisches, epileptisches Metronom. Mich faszinierten dabei seine geradezu demonstrativ gewienerten Schuhe. In Europa ist ein solcher Glanz am Fuß gar nicht denkbar, oder man nimmt ihn nicht wahr, in einem Land aber, in dem man es vom Schuhputzer zum Millionär bringen kann, spielt sich auf diesen wenigen Quadratzentimetern aller Ehrgeiz und alle Karriereaussicht ab. Sempé pumpt sich in Paris auf den Terrassen der Cafés, im Restaurant mit Figuren und Szenen voll. Dann geht er regelmäßig auf Reisen oder zieht um. Von der Rue du Dragon an die Place Saint-Sulpice, wo er mir Billets doux zeigte, die monatelang unter die Tür seines neuen Appartements geschoben wurden. Sie galten allerdings dem berühmten Vorbewohner aus der Modebranche. Das Unscheinbare, Undramatische dekuvriert Sempé mit Sorgfalt. Weil er den Blick so scharf auf die Realität richtet, kommt es nicht zur Fixierung auf gleichbleibende Typen. Das Genuine seines graphischen Genies zeigt sich darin, dass er kaum mit einem standardisierten Ausdruck arbeitet. Sicher, die Besetzung seiner Blätter, die Paris, das Leben in den Cafés, in den korporativen Salons, in der erstickenden Langeweile der Banlieue oder immer wieder den Besuch beim Psychotherapeuten mit einem soziologischen

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