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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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von Tränen« gewesen. Dem »Rafle du Vél d’Hiver«, der Razzia auf die Pariser Juden, entging er im letzten Moment, weil die Tante, die gleichfalls im Morgengrauen von der Miliz abgeholt worden war, dem blonden Jungen im letzten Augenblick zu sagen befahl, er sei der Sohn der Concierge, man habe ihn irrtümlich mitgenommen. Dies alles hat unheilbare Wunden hinterlassen. Auf nachdrückliche Weise half ihm der Umgang mit Schriftstellern und Dichtern, nicht zuletzt mit Beckett. Bei Georges Schehadé, dem Autor von Die Veilchen oder Der Auswanderer , sei er auf eine Formulierung gestoßen, die ihn zutiefst verwirrt habe. Es war ein Satz, der die eigene Herkunft und die Qual der Erinnerung beschreibt: »Sie erhob sich in der Nacht, um die Bronze ihrer Wunde zu berühren.« Und Szafran fügt hinzu, es sei immer seine Hoffnung gewesen, mit dem, was er malte oder zeichnete, ein Äquivalent für diesen schmerzenden Satz liefern zu können. Doch Szafran ist nicht nur der pointierte Ikonograph seiner Obsessionen. Im technischen Bereich verfügt er über eine außerordentliche Meisterschaft. Wie niemand sonst hat er in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Pastellmalerei weitergeführt. Zu meiner großen Freude hat die Begegnung zwischen Sam Szafran und David Lynch im lithographischen Atelier von Patrice Forest dazu geführt, dass die beiden nach einem Treffen bei Sam beschlossen haben, bei nächster Gelegenheit in Paris zusammenzuarbeiten. Lynch möchte in die Technik der Pastellmalerei eingeführt werden. Im Gespräch meinte Szafran, sein Wunsch sei gewesen, Redon und Degas zusammenzuführen, so wie im Weltraum ein amerikanisches an ein russisches Raumschiff andockt. Der fragile Schmelz der Blätter lässt an den Samt von Schmetterlingsflügeln denken. Auch in der Technik drückt sich Selbsterlebtes aus: Man spürt Vergänglichkeit und Verschwinden. Mit Spannung erlebt man das Berührungstabu, das die betörenden Blätter umgibt, und man versteht, dass die erste Hochblüte der Pastellmalerei, die die Vorstellung von Distanz geradezu materialisiert, in die Jahrzehnte vor der Französischen Revolution fällt. Sie wird von einem Tag zum anderen als Synonym von Schein, Schminke und überpuderter Haut desavouiert. Ein Jacques-Louis David, der Neoklassizismus bedienen sich nicht mehr dieser Technik. Hier verläuft die politische und soziale Trennlinie. Im Leben, im Werk Sam Szafrans verknoten sich persönliche Erinnerungen, die von dem unerbittlichen Blick auf die Welt und die Menschen sprechen, mit einer Unabhängigkeit vom Zeitgeist. Hinter allem lässt sich eine Melancholie und Müdigkeit entdecken, die aus der Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit des Werks hervorbricht. Nichts beschreibt dies grausamer als die Erinnerung Sams, er sei in den sechziger Jahren in der Grande Chaumière einem alten, dicken Mann begegnet: Dieser diente in seiner Jugend Rodin als Modell für den graziösen »Kuss«.
    In Düsseldorf wanderte ich mit meinem Kerntrupp, den Teilnehmern an meinen Seminaren, in die Ateliers der Lehrer, um ihnen Fragen zu stellen. Bei dieser Gelegenheit kam es zu wichtigen Begegnungen. Die Besuche in den Klassen von Fritz Schwegler, Konrad Klapheck, Gotthard Graubner, Markus Lüpertz, Tony Cragg oder Thomas Ruff und die Begegnung mit den Bechers und mit Gerhard Richter bleiben unvergesslich. Zu den Freunden, die ich bewunderte, gehörte rasch auch Hans Peter Thurn, der an der Hochschule Kunstsoziologie lehrte. Seine Sachlichkeit im Umgang mit der Kunst, die Art und Weise, wie er allem Exaltierten kritisch gegenüberstand, beeindruckten mich. Er veröffentlichte eine Reihe von Büchern, die sich spannenden Themen zuwandten. Neben Farbwirkungen: Soziologie der Farbe standen Untersuchungen wie Der Kunsthändler. Wandlungen eines Berufes oder Die Vernissage. Vom Künstlertreffen zum Freizeitvergnügen . Einen tiefen Eindruck machte auf mich nicht zuletzt die Begegnung mit Konrad Klapheck, mit dem ich wohl am häufigsten zusammen war. Er gehörte zu den gebildetsten und unabhängigsten Geistern, mit denen ich zu tun hatte. Bei seinen Freunden in Paris, nicht zuletzt bei Titus-Carmel, trat er mit seiner umfassenden Postkartensammlung als Rate-Zauberer auf. Er kannte sich in der Kunstgeschichte und in der Literatur aus, nicht zuletzt der französischen, und vermochte von einem schlüssellochgroßen Ausschnitt, den man ihm von einer Ansichtskarte zeigte, auf den Maler und das Werk zu schließen. Auf hypnotisierende

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