Mein Glueck
verschwand. Ich diskutierte stundenlang mit dem Künstler, um ihn zu überzeugen, den Durchmesser zu reduzieren. Am folgenden Morgen weckte er mich mit der Botschaft, er habe eine schlaflose Nacht hinter sich, aber er wolle mir entgegenkommen. Er sei bereit, den Querschnitt des Trägers um zehn Zentimeter zu verringern. Das war eine »quantité négligeable«. Aber ich beließ es dabei, da ich ja letztlich damit rechnete, dass dieser Meister des Ewigen bald wieder seine Meinung ändern könnte. Und ich hatte recht. Heute steht der goldene Topf ziemlich verloren oben im Gebäude auf einer Terrasse.
Ein anderer Künstler und Graphiker, der mich tief beeindruckte, war Sam Szafran. Ich zeigte zum Erstaunen mancher Kollegen im Januar 2000 Werke von ihm in den wiedereröffneten Räumen des Centre Pompidou. Er hat sein Atelier in der südlichen Banlieue von Paris. In Malakoff, wo auch Boltanski, Annette Messager und Sophie Calle leben und arbeiten, tritt man von einer fast ländlichen Straße in das Haus des Künstlers. Durch einen kurzen Korridor, von dem die Treppe in die Wohnräume hochführt, kommt man in den weiten ebenerdigen Arbeitsraum, Lianen, Araliengewächse, ein hermetisches Geflecht aus ledrig-glänzenden Pflanzen, das sich um eine ins Leere führende Wendeltreppe entfaltet, empfängt den Besucher. Die Treppe im Atelier taucht in vielen Bildern auf. Der Besucher betritt ein Laboratorium des Aufruhrs und der Absage an den bürgerlichen Geschmack, dem sich ein ehemaliger Nachbar verschrieben hatte: Gaëtan Gatian de Clérambault, Verfasser von Passion érotique des étoffes chez la femme , lebte bis zu seinem Tod in den frühen dreißiger Jahren im Nebenhaus. Der Psychiater gehörte zu den Teilnehmern der denkwürdigen Sitzung der »Société Médico-Psychologique« im Jahre 1929 , auf der gerichtliche Schritte gegen den Surrealismus und André Breton gefordert wurden. So sprechend wirkt der Einstieg in den von Lianen, wechselständigen Philodendren, Büchern, Staffeleien und Bildern angefüllten Kristall der alten, glasüberdachten Gießerei, dass man glaubt, in den angsterstickten Beginn von Debussys »Pelléas und Mélisande« einzudringen. Die Klage »Ich kann nicht mehr aus diesem Wald heraus!« verweist auf das Vertigo unendlicher Nuancen, in das Szafrans Arbeiten das Auge hineinreißen. Die Blätter setzen bei den »enthousiasmes soudains« ein, von denen bei Fontanelle die Rede ist. Der Schauplatz Atelier, an dem die Beschäftigung mit der Welt der Erscheinung stattfindet, gehört denn auch – neben dem Vertigo der Wendeltreppen – zu den drei oder vier Hauptthemen, um die die Arbeit Sam Szafrans kreist. Die Tatsache, dass das Atelier als ständiger Schauplatz erscheint, dem der Künstler nicht zu entfliehen vermag, sorgt dafür, dass alles Idyllische und Genrehafte hinausgedrängt wird. Szafran geht von der Topographie seines Viertels aus. Unter der Blase aus Glas liegt eine abgezirkelte Welt, die der diaphanen Studios, die, wie es Francis Ponge in dem Text »L’Atelier« schildert, überall in den Gärten und oberen Stockwerken der Stadt auffallen: »Es ist, als sei die Haut der Stadt stellenweise (an diesen Orten) dünn geworden, bis zum Äußersten ausgezehrt, so dass ihr Fleisch nurmehr von einem ganz zarten Häutchen geschützt wurde.« Tische, Kreiden, Eisenkonstruktion und Glasdach tauchen bei Szafran in immer neuen Variationen auf. Man kann das Dickicht und die Schattenwelt im Atelier als Metapher eines Lebens nehmen, das nur mit Glück der Erniedrigung und Ausrottung entkommen ist. Szafran, Sohn polnischer Einwanderer – die Großeltern kamen aus Lodz –, hat seine bedrückende Kindheit in Paris verbracht. Es sind Szenen des Aufruhrs, in die er sich verwickelte. Seine Kindheit sei schrecklich gewesen, seine Mutter habe ihm gewünscht, er bekomme eine schmerzende Flechte und dazu so kurze Arme, dass er sich nicht kratzen könne. Mit Freuden erzählt er, wie sein Freund Cioran, der Aphoristiker des Widerspruchs, als Kind von dem Vater beauftragt wurde, offenes Bier zu kaufen. Mit der Auflage, keinen Schluck davon zu nehmen. Er habe getrunken und den Krug wieder vollgepisst. Wiederholt versucht er, aus der Familie auszubrechen. Nach der ersten Flucht sucht die Polizei den Fünfjährigen. Er lässt sich in die Kirche Saint-Eustache im Hallenviertel einschließen und verbringt dort eine Nacht des Terrors. Der Mesner habe ihn vor der Frühmesse entdeckt. Und er erinnert sich, er sei »gesalzen
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