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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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anreisten, sickerte langsam durch, dass dessen Frau Lucie nicht, wie jahrzehntelang vorgegeben, die Schwester von Louise Leiris war. In Wirklichkeit war Louise, die spätere Madame Leiris, die uneheliche Tochter von Lucie und damit Kahnweilers Stieftochter und Leiris nicht Kahnweilers Schwager, sondern Kahnweilers Schwiegersohn. Lucie war von einem anderen Mann schwanger, als Kahnweiler sie heiratete. Um die bürgerliche Wohlanständigkeit zu retten, wurde das Kind fern von Paris als Schwester der Gattin aufgezogen. Es war quälend, mit anzusehen, wie sich Michel Leiris bei den Vernissagen in der Galerie unsichtbar zu machen suchte. Jeder spürte, dass er sich in dieser Umgebung deplaziert fühlte, und man hatte den Eindruck, als suche er ängstlich in den Augen des Gegenübers etwas von der Diagnose seiner eigenen Scham zu erraten. Doch hätten es seine Erziehung und seine Dankbarkeit nie zugelassen, die Normalität zu stören und einem Ereignis, das den ganzen Clan einschloss, fernzubleiben. Höflich ließ er sich von jedem in Gespräche verwickeln, obwohl er diese offensichtlich weitgehend nur in totaler Anästhesie zu ertragen vermochte.
    Viele Freunde und Bekannte, Georges Auric, Jacques Prévert, Georges Salles, Francis Ponge, Raymond Queneau, André Masson, Joan Miró, Aimé Césaire, Tristan Tzara, Claude Lévi-Strauss, Armand Salacrou, Jean-Louis Barrault oder René Leibowitz, der uns von seiner Zusammenarbeit mit Schönberg und Webern erzählte, assistierten bei diesen Eröffnungen in der Galerie, die auf all das verzichteten, an das uns Vernissagenbetrieb und Zugriff der Öffentlichkeit gewöhnt haben.
    Bei dieser Gelegenheit lernte ich auch Simone Collinet, die erste Frau von André Breton, kennen. Regelmäßig kam ich zu ihr in ihre Wohnung in der Nähe von Val de Grâce oder in ihre Galerie an der Place de Furstenberg, in der sie Arbeiten von Arcimboldo oder Picabia zeigte. Bei meinen späteren Recherchen zu Max Ernst und zum Surrealismus erwies sie sich als eine überaus kompetente Zeitzeugin und großzügige Leihgeberin. Es war erregend, hier erstmals das Manuskript von Bretons surrealistischem Manifest in den Händen zu halten. Zu den Besuchern bei Kahnweiler gehörten auch die verhutzelte Alice Toklas mit ihrem heimlichen Schnurrbart, die voller Trauer den Part der Witwe oder des Witwers von Gertrude Stein übernommen hatte, und die großzügige und verschwenderische Nadja Léger, von der Kahnweiler immer vorwurfsvoll meinte, sie werde noch, wenn sie weiterhin auf so großem Fuße lebe, auf dem Stroh landen – so wie er auch in der Erinnerung an seinen Freund Carl Einstein nachträglich den Kopf schüttelte, weil dieser schon zum Frühstück Champagner auffahren ließ. Es gab für die Ausstellungen keine Werbung und keine Annoncen. Louise Leiris tolerierte keinen Blumenschmuck, und es gab beileibe auch kein Buffet. Es war nicht zu übersehen, Michel Leiris blieb ein Gequälter, der chronisch mit einem schlechten Gewissen kämpfte. Beim Zusammentreffen mit Francis Ponge, Jean Tardieu oder Georges Limbour ließ sich eine Hemmung erkennen, die mit der unüberbrückbaren sozialen Kluft zu tun hatte. Und Francis Ponge, von Neid getrieben, genierte sich auch keineswegs, auf diesen in seinen Augen inakzeptablen und ungerechten Abstand hinzuweisen. Eine Spannung war spürbar, sie äußerte sich in kleinen giftigen Distanzierungen. Köstlich zu erleben, wie mich Michel Leiris in unserem Garten beiseitenahm und meinte, Freund Jean Tardieu werde ja aufs eindrucksvollste vom eigenen Fett eingewickelt. Und Jean Tardieu flüsterte mir wenige Minuten danach zu, Michel sei ja auf beängstigende Weise zum Skelett abgemagert.
    Es konnte kein Zweifel daran bestehen, Kahnweiler, Michel Leiris, Louise Leiris und die Menschen, mit denen diese verkehrten, rechneten sich ganz selbstverständlich zur französischen Linken. Résistance, Algerienkrieg, Manifestationen, Mai 1968 , Einsatz für die kubanische Revolution und Reisen nach Kuba, Unterzeichnung des Manifests, das zur Befehlsverweigerung im Algerienkrieg aufrief, die Passion für Fidel Castro, die Leiris in einem Protestbrief, den er 1971 wegen der Festnahme des Dichters Heberto Padilla an den Máximo Líder richtete, wieder revidierte, all dies erlebten sie auf der Seite, auf der sich fast die gesamte französische Intelligenzia aufzuhalten liebte. Alle Gespräche und Argumente kreisten um diese Themen. Die politische Haltung stand außer Zweifel. Aus diesem Grunde

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