Mein Glueck
den Rand der Vernichtung gebracht hatte. Ich schämte mich für diese Unfreiheit, in die ich gebracht worden war. Aus den Büchern Schlichters, in denen er seine Lebensgeschichte aufgeschrieben hat, die in weiten Teilen in dieser Region spielte, kannte ich die gefährliche Monomanie der hasserfüllten Verachtung, die jener für seine Mutter empfunden hatte.
Aus solchen mörderischen, tödlichen Phantasmen konnte ich mich nur durch andere und anderes retten. Eine brennende Religiosität verhalf mir dazu. Sie wurde zum Instrument, mit dem ich meine Umgebung zu bändigen begann. Ich wusste, dass diese Frömmigkeit, außer von meinem Vater und meinem skeptischen Bruder, die meine Inbrunst eher mit Misstrauen betrachteten, von niemandem in Frage gestellt wurde. Ich selbst glaubte fanatisch an das, was ich da inszenierte, und erwartete ständig, Erscheinungen zu haben. Tyrannisch zwang ich die Familie, an den Messen und Andachten teilzunehmen, die ich vor einem improvisierten Hausaltar mit allem Drum und Dran, mit einer eindrucksvollen Reliquien- und Medaillensammlung in meinem Zimmer abhielt. Ich zwang alle in die Knie. Dann, erinnerte sich Schwester Elfriede, habe der Gottesdienst mit Gebeten, mit Opferung, Wandlung und Kommunion begonnen. Doch das Wichtigste sei immer die Predigt gewesen. Das erschien mir die sicherste und probateste Maßnahme, gegen die sich die bigotte Stiefmutter auf keinen Fall zur Wehr setzen konnte. Sicher, das hatte etwas Spielerisches, doch auch den Ernst einer Suche und den Anflug der Gewissheit, der Glaube könne alles Materielle bezwingen. Erst später entdeckte ich, dass in dieser alchimistischen Lust, die Schäbigkeit der Wirklichkeit zu überwinden, ein unerhörtes Potential steckte, das mithalf, den schwindenden Glauben an Transsubstantiation wettzumachen. Es war sicherlich keineswegs eine Erfahrung, die nur ich machte. Der Hohepriester der säkularisierten Transzendenz wurde für mich später Marcel Duchamp, der jeden Griff und jedes Schweigen, die sein Leben begleiteten, wie ein schwarzer, kollabierender Stern mit einer schwindelerregenden Anziehungskraft versah. Jeden Morgen zog ich von nun an gegen 6 Uhr in die Hauskapelle der Franziskanerinnen im gegenüberliegenden Kloster St. Klara. Dort hatte ich mir das Monopol darauf ergattert, zwei Weihbischöfen der Diözese bei der Messe als Ministrant zu dienen. Kein anderer konnte und durfte mir diesen Platz streitig machen. An einem Vormittag versah ich dieses Amt wie am Fließband. Nach einem Weihbischof waren der Diözesanbischof und schließlich mein Onkel, der Benediktinerabt und Missionsbischof Eberhard, der aus Peramiho in Ostafrika zu Besuch angereist war, an der Reihe. Und um nichts in der Welt hätte ich dieses Recht mit jemand anderem geteilt. Ein- oder zweimal im Jahr wurde der tägliche Einsatz von den Klosterschwestern, die im übrigen ununterbrochen für mich beteten, belohnt. Es gab Milchkaffee und zwei Milchbrötchen mit Butter und Honig. Bei einem der Hochwürden blieb immer ein Schluck Messwein übrig, den durfte ich dann in der Sakristei aus dem Kännchen direkt in meinen Mund leeren. Ein anderer, der leibesvolle Weihbischof Wilhelm Sedlmeier dagegen, insistierte, dass ich ihm am Ende der Messe nach der Kommunion bei der Säuberung des Kelchs den ganzen restlichen Wein über die Finger goss. Immerhin lud er mich eines Tages zu einer Autoreise nach München ein, wo ich im Haus der Kunst meine erste überwältigende Ausstellung sah, eine Retrospektive von Ernst Nolde. Außerdem konnte ich in St. Klara ab und zu von den schneeweißen Abfällen knabbern, die aus der Hostienbäckerei des Klosters stammten. Die diaphanen Blätter aus Teig, mit ihren Löchern und Bohrresten, sahen wie Butzenscheiben aus. Es war eine Speise, die mich ständig nah an die Grenze der Profanation brachte. In einem fort versuchte ich, den Unterschied zwischen einfachen Oblaten und konsekrierten Hostien herauszuschmecken.
Es bestand, wie ich entdeckte, eine Möglichkeit zur Flucht aus der Familie. Zu dieser verhalf mir das Landesexamen, bei dem Gymnasiasten aus unserem Teil der Diözese für den Besuch des bischöflichen Konvikts in Rottweil ausgewählt wurden. Ich war damals vierzehn Jahre alt und besuchte zusammen mit Schülern des Martinihauses das humanistische Gymnasium in der Sprollstraße, wo ich mich zur Prüfung anmeldete. Diese dauerte zwei Tage lang und fand 1952 im katholischen Priesterseminar in Tübingen statt. Das Wilhelmstift liegt,
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