Mein Glueck
ich weiß nicht, ob dies Zufall oder Fügung ist, nicht weit von dem Haus entfernt, an dem heute eine Gedenktafel daran erinnert, dass an diesem Ort Alois Alzheimer erstmals seine Ergebnisse zu einem schweren und eigenartigen Krankheitsbild der Hirnrinde präsentierte. Ich schnitt beim Examen überaus gut ab und bekam einen der begehrten Plätze. Stillschweigend wurde vorausgesetzt, dass sich die Schüler des Internats bereits für das spätere Studium der Theologie entschieden hatten. Nichts fiel mir leichter als ein solches Versprechen. Es war ja auch mein großes und ehrliches Verlangen, Priester zu werden. Dieser Wunsch und diese Erwartung überantworteten mich übrigens einer völlig neuen Zeitrechnung. Ich lebte von nun an auf den Tag hin, an dem ich nach der Priesterweihe erstmals am Altar stehen dürfte, und ich zählte die Monate und die Jahre, die mich noch von der Primiz trennten. Dahinter steckten eine unstillbare Machtphantasie und der Glaube an die Möglichkeit, das Leben durch einen Gnadenakt verändern zu können. Diese ungenaue Mischung aus Simulation und Überzeugung brachten mich in eine andere Art von Gefängnis, in das bischöfliche Konvikt.
Es war meine erste Reise in die älteste Stadt des Landes, nach Rottweil am Oberen Neckar. Auf der Zugfahrt begleitete mich und meinen schweren Koffer die Stiefmutter. Auch ein Mitschüler, Egon Gramer, war zugestiegen. Er gehörte zu den intelligentesten und selbständigsten Kameraden. Mit ihm hatte ich zuvor schon Wanderungen zu seinem Heimatdorf Dettingen gemacht und eifrig über unsere Zukunft diskutiert. In seinem Erinnerungsbuch Zwischen den Schreien , das 2007 erschien, berichtet er über unsere Schulzeit und die Jahre im Konvikt, die er, wie ich, als Maschinerie zur Förderung von Verklemmtheit und Duckmäusertum erlebte. Die Fahrt nach Rottweil führte durch das Neckartal. Nach Horb verließ der Zug die Wälder und Wiesen, die mir durch zahllose Wanderungen vertraut geworden waren. Auf der Höhe von Oberndorf ging es nun mehr nach links. Ein- oder zweimal musste der Zug an einem kleinen Bahnhof anhalten und die Ankunft des Gegenzugs abwarten. Die Strecke zwischen Tübingen und Bodensee war eingleisig. Die Franzosen hatten die Schienen abmontiert. Dann schließlich konnte ich, ehe die Lokomotive an der alten Pulvermühle vorbei, die zur Sperrzone erklärt worden war, in die Station einfuhr, für wenige Sekunden oben, wie eine Erscheinung, die Stadt liegen sehen, in die ich nun ziehen sollte. Der Weg vom Bahnhof, der leicht außerhalb östlich der Stadt liegt, führte steil nach oben und schließlich über die Hochbrücke, nach rechts zu einer breiten, platzähnlichen Straße, an der ich die ersten herrlichen Bürgerhäuser der ehemaligen freien Reichsstadt und ihre blumengeschmückten Erker bewundern konnte. Es war ein überraschender Anblick, der sich mir beim ersten Gang ins Internat bot. Eine derartige urbanistische Harmonie hatte ich zuvor noch nie gesehen. Die Aussicht von der Brücke war überwältigend. In der Ferne lagen die Berge der Schwäbischen Alb, die mich jahrelang anzogen. Sie schienen unberührt, sie gehörten zu dem Regime der Immaculata, dem wir nun alle im Konvikt unterworfen wurden. Keine Häuser oder Siedlungen durchbrachen den feinen Farbnebel, der sich östlich der Stadt vom Lemberg, der höchsten Erhebung der Schwäbischen Alb, bis zum Klippeneck und zum Dreifaltigkeitsberg oberhalb von Spaichingen ausbreitete. Ich hatte das Gefühl, ins Leere zu fallen und die Welt sei hier irgendwie zu Ende. Über den Häusern der Stadt erhob sich links der Turm der Kapellenkirche. Im Unterschied zum Domturm in Rottenburg ging etwas Definitives, Quietistisches von diesem symmetrischen Bauwerk aus, das ich bald auch in einer Kohlezeichnung zu verewigen suchte. Es ist wohl das einzige Blatt von mir, das eingerahmt wurde und einen Platz an der Wand bei einem meiner Geschwister gefunden hat. An der Kirche vorbei ging es zum schmucklosen, strengen Konviktgebäude in der Johannsergasse, das sich, wie es heute in der Werbung für die Anstalt heißt, dem »jesuitischen Hausgeist« verpflichtet fühlt. Das erste, was ich mit leichtem Schrecken sah, waren die mit Schmiedeeisen vergitterten Fenster im Erdgeschoss.
Im Internat begann ein neues, fremdes Leben. Man nannte uns Zöglinge. Die etwa achtzig Schüler der vier Gymnasialklassen teilten den Raum und die Zeit und wurden von zwei Zensoren überwacht. Für jede Klasse gab es einen Studiersaal mit
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