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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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ziehen musste, um den Boliden bei der Fahrt notfalls blockieren zu können. Schon bei geringer Geschwindigkeit kam der Wagen durch dieses Bremsmanöver ins Schleudern und stellte sich quer. Doch der Umstand, dass ich als einziger Teilnehmer an diesem Rennen über keine funktionierende Bremse verfügte, wurde zum rettenden Bonus. Ich fuhr, selbstverständlich ohne Sturzhelm, mit dem schweren hölzernen Sarg, der die Nummer 101 trug, die lange, steile Rennstrecke von Schadenweiler in die Stadt hinunter. In den Kurven war die Straße mit Strohballen abgesichert. Notgedrungen kam ich schneller als die anderen ins Ziel. Ich war der Sieger meiner Kategorie. Das war ein grandioses Erlebnis. Ein Auto schleppte mich und meinen sargähnlichen Boliden, der mit Blumen geschmückt war, im Triumph durch die Stadt. Am erregendsten war der Preis, der mir winkte. Ich durfte beim Süddeutschen Rundfunk in der Stuttgarter Neckarstraße an der Sendung einer Kinderstunde teilnehmen. Dieser frühe Kontakt mit dem Radio sollte für mich nicht folgenlos bleiben. Das Unglück, das durch die Stiefmutter über mich gekommen war und das der Mangel an Sensibilität, den ich um mich zu spüren glaubte, noch verstärkte, nahm auf furchterregende Weise zu. An ein Ereignis erinnere ich mich mit Scham in allen Einzelheiten, was zeigt, dass es sich dabei keineswegs nur um eine Halluzination handelt. Meine Abneigung, ja mein Hass hatten ein Maß erreicht, das sich kaum mehr überschreiten ließ. Ich sah mit wachsender Angst, wie meinem Vater die Kraft ausging, sich überhaupt noch zu wehren und uns in Schutz zu nehmen. Ich hatte den Eindruck, er wollte dies auch nicht mehr. Er selbst äußerte sich nicht darüber. Nie hat er uns Kindern etwas Intimes und Persönliches anvertraut. Es war ein erschreckender Mutismus, in den er sich und auch uns hineingezogen hatte. Niemand war da, der mir helfen konnte. Ich steigerte mich richtiggehend in die Rolle hinein, von Grund auf für immer unglücklich zu sein. Mein Bruder war ins Lehrerseminar in Ehingen im Oberland eingezogen, und die älteren Schwestern kamen erst am späten Abend vom Studium oder von der Arbeit zurück. Annerose kümmerte sich damals auch um den Verkauf von Fichtennadel-Essenzen. Alles im Haus roch danach und vermittelte die Illusion, es ließe sich überall tief durchatmen. Es war ein wüster regnerischer Herbstabend. Ich war im Dom. Dort hatte ich in der düsteren Sakristei am Ministrantenunterricht teilgenommen, den ein Vikar hielt. Es waren die Tage, in denen ich Dostojewskis Schuld und Sühne las. Mit der pochenden Angst und Spannung dieses Buches in Kopf und Herz, mit einer grauenhaften Bangigkeit ging ich in der feuchten Dunkelheit nach Hause. Von ferne, fast vom Eugen-Bolz-Platz aus, wo der Graben des Weggentalbachs an die Oberfläche tritt, sah ich den Vater. Er war allein und ging auf der Straße auf und ab. Blitzartig überfiel mich wie im Märchen eine Art von erschütternder Ahnung. Ich war fest davon überzeugt, er habe sie endlich umgebracht und warte nun auf mich, weil er es nicht wage, allein in die unheimlichen Räume zurückzukehren. Von oben fiel kein Licht auf die Straße. Die Wohnung der Pfandleiherin Aljona Iwanowna und ihrer Schwester Lisaweta aus Dostojewskis Roman, in die Raskolnikow eingedrungen war, kannte ich in jedem Detail, und ich spürte in der kühlen Nacht diese drohende Stille, die nun auch bei uns eingezogen sein musste. Ich weiß noch genau, wie umberührt ich mich einige Sekunden lang fühlte, wie ich mir diese Tat mit der Arroganz eines Übermenschen erwünschte. Ich ließ keine mildernden Umstände gelten. Es war eine Art von Transfer-Mord, eine Errettung aus der Distanz. Erst später stieß ich auf die eiskalten Kategorien, die so etwas ermöglichten, auf Nietzsche, auf den »crime gratuit« in Gides Les Caves du Vatican . Sicher, ich wusste, dass ich in meiner Verzweiflung auf böse Weise übertrieb und mich in einen Hass hineinsteigerte, der völlig ungerecht und unverhältnismäßig war. Irgendwie war mir auch klar, dass diese Frau in eine schwierige Situation, in eine hungernde, nach Herzlichkeit lechzende Familie mit fünf Kindern geraten war. Später, als ich in Paris und frei lebte, empfand ich schließlich Erbarmen und Zärtlichkeit für das, was sie unverschuldet auszuhalten hatte. Und bei der regelmäßigen Heimkehr nach Rottenburg versuchte ich dies wettzumachen. Aber ich konnte mich nie ganz von dem lösen, was mich, wie ich spürte, an

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