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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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aus ästhetischen Gründen. Die Komposition aus nacktem Körper und Pfeilen war für mich von verwirrender Schönheit. Und es floss kaum Blut. Ich merkte auch, dass diese Sehnsucht nach einem frommen Tod der Gegenseite, der Schwesternschaft, die uns umsorgte, alles andere als unangenehm war. Den Beweis dafür konnte ich am eigenen Leib erleben. Ich hatte im Winter 1954 eine schwere Grippe. Das Thermometer kletterte auf über vierzig Grad. Doch im Krankenzimmer, in das man mich gesteckt hatte, waren die Schwestern keineswegs beunruhigt. Sie riefen keinen Arzt, sondern holten aus ihrer Reserve eine Flasche, in der sie einen Rest Lourdes-Wasser aufbewahrten. Den gaben sie mir zu trinken. Ich sehe noch, wie im Glas ein brauner Bodensatz zurückblieb. Am Morgen danach war das Fieber gesunken und das Wunder perfekt. Es war ein wenig ein Wunder gegen den Willen derer, die mich umsorgen sollten. Denn nachher gestand mir eine der Klosterschwestern, sie hätten sich ebenso sehr über eine junge und hübsche Leiche gefreut. Mein Bruder Günther war damals für einige Monate Musiklehrer an unserem Gymnasium. Als er von dem, was vorgefallen war, erfuhr, packte ihn eine immense Wut, eine Wut, mit der er schon immer diesen heuchlerischen und scheinheiligen Ort betrachtet hatte. Nur von männlichen Märtyrern war im Konvikt die Rede. Sie allein tauchten auf den Wänden auf. Die Begegnung mit dem Schwert im Busen der heiligen Justina wurde uns ebenso vorenthalten wie die abgeschnittenen Brüste, die die heilige Agatha auf einem Tablett vor sich herträgt. Ich merkte rasch, für jemanden, der seine Pubertät dem bischöflichen Konvikt in Rottweil zum Opfer brachte, durfte es die Frau nur unter zweierlei, man könnte sagen, mit bischöflichem Imprimatur versehenen Erscheinungsformen geben. Als unklare, mit erigierter Haube und Schürze ausgestattete Ordensschwester, deren Stimme und eckige Bewegungen sich jeder sexuellen Auslegung entzogen. Oder aber als halbnackter barocker Erzengel, der in der Kirche, in der wir uns zur Messe versammelten, über unseren Köpfen schwebte. Doch da sich ja über das Geschlecht der Engel nichts Genaues sagen ließ, übertrug sich dieses unlösbare Problem auf beide Modi.

    David Lynch und Werner Spies

    Zwei Begegnungen kamen dem vom Haus vorgeschriebenen Angelismus in die Quere. Einmal war es das Auftreten der Pianistin Monique Haas und dann die Begegnung mit dem Engel selbst, mit Angela in der Gestalt Elizabeth Taylors. Monique Haas kam aus Paris und spielte im Festsaal des Gymnasiums Ravels »Pavane pour une infante défunte«. Noch nie hatte mich etwas mehr aufgewühlt als diese halbdissonante, sich wie mit Fingernägeln festkrallende Melodie. Bis heute überlagert sich diese Bitterkeit mit jener der Altarie »Erbarme dich, mein Gott« aus der Matthäuspassion. Die Septakkorde Ravels, die scheinbar hilflos und ohne Rettung zu erwarten, ins Leere greifen, erschienen mir wie Türöffner zu einem vagen euphorischen Nihilismus, der mich mehr und mehr anzog. Unvergesslich verbanden sich die Erscheinung der eleganten Französin und die herben Töne. Dank Beckett traf ich die Pianistin später in Paris. Ihr Mann, Marcel Mihalovici, hatte die Musik für das Hörspiel »Cascando« komponiert, das mir Beckett zur deutschen Premiere im Süddeutschen Rundfunk überlassen hatte. Das Paar wohnte damals in der Rue du Dragon. Und kurz nach diesem sinnlichen Weckruf durch die Musik Ravels kam es zu einem unvergesslichen gemeinsamen Kinobesuch der ganzen Klasse. Wieder war Musik im Spiel. Franz Waxmans narkotische Partitur legte ihre Arme um Angela, um die unsagbar schöne Elizabeth Taylor. Die Verfilmung von Dreisers Amerikanischer Tragödie vernichtete alles, was ich bis dahin gesehen und geahnt hatte. Gegen ihre feuchten Lippen, den Eifer ihrer Augen, die Bewegung ihrer Brust konnte Maria Schell, die vom Vorsteher des Konvikts bei Filmabenden ab und zu als Allegorie des Keuschen angeboten wurde, wirklich nichts ausrichten. Ich sah »Platz an der Sonne« und war bereit, wie Montgomery Clift, mein Leben für Angela zu lassen. Denn durch die Lektüre der Geschichten von frommen jugendlichen Märtyrern waren mir nicht zuletzt auch alle Modalitäten des Liebestodes ein Begriff. Ich begann zu ahnen, dass auch für mich das Leben der Stars nach und nach an die Stelle von Toten, von Heiligengeschichten treten würde. Erstmals überfielen mich Phantasien von weiblichen Gesichtern und Körpern. Obwohl wir im Konvikt

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