Mein Glueck
und Goyas zur Entdeckung eines abgründigen psychischen Zustands, der das Glück allein dort findet, wo es auf der Kippe steht. All dies verweist auf die erste intellektuelle und emotionale Besteigung eines Berges, von der wir überhaupt wissen. In Familiarium Rerum Libri IV beschreibt Petrarca den berühmten Gang auf den Berg, in den Berg. Der physische Part des Unternehmens, das Naturerlebnis am Mont Ventoux, das sich dabei bieten musste, steht nicht im Brennpunkt des Interesses – es geht vielmehr um ein anagogisches, symbolisches Erleben, für das Petrarca nicht von ungefähr die spirituelle Partitur, die Bekenntnisse des Augustinus, in der Rocktasche mitführt. Es steht mehr auf dem Spiel als eine wissenschaftliche Eroberung oder eine physische Premiere. Sind doch so gut wie alle Bergbesteigungen, an die wir uns erinnern wollen, Besteigungen, die mehr im Kopf als am Seil und an der Steilwand stattfinden.
Mit Bäsle Else in Schramberg
Die Marienverehrung, die Gleichsetzung Gletscher, Reinheit, Sturz in die Tiefe, nahm im Konvikt widrige Formen an, Formen einer Subtilität, die etwas Obszön-Genaues an sich hatte. Eine Art geistig-geistliches Kamasutra war ausgeschildert, das zum Glück eines Tages in eine brennende, glühende erste Liebe übergehen konnte. War es da nicht besser, in die geheimnisvolle feuchte Welt von Wagners Kundry vorzudringen? Auf alle Fälle, so etwas wie Missbrauch erlebte ich nicht. Auch die anderen amtlichen Lektüren knechteten unsere Freiheit und Meinung. Beim Mittagessen hatte täglich einer der Zöglinge an einem Lesepult, das mitten im Speisesaal auf einem Sockel stand, aus einem Buch vorzulesen. Man folgte der Schilderung eines Heiligenlebens, bis der Repetent am Herrentisch sein von allen erwartetes »Sufficit!« hören ließ. Man hörte den Bericht vom monatelangen Bombardement und von der heroischen Befreiung des Alcázars in Toledo. Es war ein durch und durch reaktionäres, frankistisches Buch, dessen Held, Oberst José Moscardó, uns gegen die grausamen und gottlosen Republikaner in Wut versetzen sollte. Auf diese Weise brauchten die Priester, die uns betreuten, nicht völlig auf Kriegsberichte und auf die Bewunderung für die Legion Condor zu verzichten. Alles im Haus passte zu diesen Geheimniskrämereien. Und manche Älteren, Erfahreneren munkelten, jemand mische uns unauffällig Soda ins Essen. Die Schwester Oberin verfüge über eine chemische Essenz, die die Triebe dämpfen sollte. Was das bedeutete, konnte ich damals nicht wissen. Erst später bekam ich zufällig mit, dass die schielende, zahnlose Phalanx von weiblichen, zölibatsfördernd abstoßenden Angestellten mit breitschüsseligem Unterleib, die die Betten richtete, überaus genau die Laken examinierte. Sie tat dies auf eine widerliche Weise. Immer wieder wirkten diese Bediensteten bei der Entdeckung von Flecken, nach denen sie wie nach Ostereiern suchten, freudig erregt. Später musste ich, wenn ich mich an diese Szene erinnerte, an Mallarmés unerhörtes Wort »Le blanc souci de notre toile« (»Die weiße Sorge unseres Segels«) denken. Denn diese geile Jagd schien auf böse Weise Mallarmés einzigartiges, ja heiliges Wort zu verspotten. In den Gängen des Konvikts hingen unter der Jesuitengalerie strenge, böse Gesichter ohne den Anflug einer Güte oder eines Lächelns. Sie sind heute der Stolz des Hauses. Vor kurzem wurde ich, wie wohl auch andere ehemalige Zöglinge des Hauses, aufgefordert, mich mit einer Spende an der Restaurierung dieser barocken Galerie zu beteiligen. So angsterregend wirkten manche Bilder, dass ich vor ihnen die Augen schließen musste. Die strenge Erscheinung von José de Anchieta, des seliggesprochenen brasilianischen Nationalheiligen, wurde etwas gemildert durch einen Kanarienvogel, der ihm auf der linken Schulter ins Ohr zu flüstern schien. Mit Vorliebe verschlang ich damals Heiligengeschichten. Vor allem das Leben und der Tod von Märtyrern interessierten mich brennend und rissen mich mit. Ich steigerte mich in den Wunsch hinein, einer der ihren zu werden. Ihr Status erschien mir verlockender und stolzer als der von gewöhnlichen Heiligen, die lediglich Gutes getan und Wunder bewirkt hatten. Das einzige, was mich dann während der Messe beschäftigte und regelmäßig von aller Andacht abhielt, war herauszufinden, welches wohl der spektakulärste, nobelste – und schließlich auch – schmerzfreieste Tod sein könnte. Ich verfiel auf den heiligen Sebastian. Sicher nicht zuletzt
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