Mein Glueck
unentwegt auf dramatische Weise vor Frauen und deren heimtückischen Verführungskünsten gewarnt wurden, spürte ich eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Einen Höhepunkt erreichte diese vorerst, als mir die Tochter des Direktors des Leibniz-Gymnasiums gestand, ich hätte die wunderschönen tiefen Augen eines blauen Rehs. Zum Unterricht wanderten wir vom Konvikt in das humanistische Albertus-Magnus-Gymnasium. Dies geschah zumeist in kleinen Grüppchen. Es war ein Fußweg von ungefähr zwanzig Minuten, der durch die Stadt und durch eine Anlage führte.
Ob es insgesamt schließlich doch eine gute Zeit war, weiß ich nicht. Es war auf alle Fälle die einzige Möglichkeit, die es damals für mich gab, von zu Hause wegzukommen. Ich erwartete unendlich viel von neuen Freunden, zu viel. Schnell zog ich mich zurück und versank mehr und mehr in eine immer wieder besinnungslose und ausweglose Einsamkeit. Der Umgang mit den Kameraden war oft schwierig. Die plumpe Vertraulichkeit und die grotesken Moralismen stießen mich ab. Auch war ich so unsportlich, dass ich für fast alle Gruppenspiele ausfiel. Einer verleumdete mich eines Tages. Ich weiß nicht mehr, was die Ursache war. Aber ich bin in einen viertägigen Hungerstreik getreten und blieb unerbittlich, bis er sich vor allen anderen entschuldigte. Es war eine richtige Lust mitzuerleben, wie sich auf der Gegenseite nach und nach so etwas wie Angst breitmachte. Mit manchen, auch den Lehrern, war das Zusammenleben eine Qual. Und ich tat nichts, um diese Beziehung zu entspannen.
Ich war frech, vorlaut und spottsüchtig. Von einem Lehrer, einem geistlichen Studienrat, sagte ich, er liebe die Spaghetti so weich gekocht, dass sich sein Gebiss während des Essens neben dem Teller ausruhen könne. Natürlich wurden solche Sprüche den Betroffenen zugetragen. Nichts machte mich fröhlicher, als die Lacher auf meiner Seite zu haben. Im Zusammenleben mit den anderen Konviktoren kamen gesellschaftliche Unterschiede zum Tragen, über die man in diesem frommen, vielfach heuchlerischen Milieu nur den Kopf schütteln konnte. Die Jungen, die aus dem bäuerlichen Oberland kamen, erhielten regelmäßig fette Pakete mit Würsten, Speck, Kuchen und Butter. Ich teilte eine Büchse eingelegter Heringe mit einem Freund. Dabei zogen wir in der Mitte der Dose eine Grenzmarke, und der eine aß sich von links, der andere von rechts zur Demarkationslinie vor. Wir hatten zum nachmittäglichen Vesper, das wir selbst organisieren mussten, keine Butter. Um nichts auf der Welt hätten uns die Kameraden etwas davon spendiert. Ich rückte das Stück Margarine, das ich mir gekauft hatte, über Nacht ganz nahe, cheek to cheek, ans Butterpaket eines Mitschülers aus Waldsee. Ich erhoffte mir so etwas wie Transsubstantiation. Und ich wollte glauben, dass das Fett, das so lange der Ansteckung durch Butter ausgesetzt wurde, sich irgendwie verwandeln oder doch mindestens – und das war Schadenfreude – zur Korruption der Butter führen müsse. Ich redete es mir nicht nur ein. Ich überzeugte den knickrigen Hausgenossen davon, der wenigstens vorübergehend bereit war, ab und zu beides, die gebende und die infizierte Substanz, mit mir zu teilen. Das Essen selbst, das uns an Tischen, an denen jeder seinen angestammten Platz einzunehmen hatte, ausgegeben wurde, war überaus einfach und ohne Abwechslung. Ich sprach neulich mit meinem ehemaligen Kameraden Egon Gramer darüber; weder er noch ich haben die Erinnerung an einen spezifischen Geschmack oder einen erfreulichen Geruch bewahrt. Nur eine generelle unangenehme, unverwechselbare Duftmarke verband die Räume des Hauses, der allein der erkaltete Rückstand von Weihrauch aus der Kapellenkirche eine Art von Exorzismus entgegenhielt. Es kam uns vor, als sei alles, was die Nase berühren oder gar reizen könnte, verbannt, in einen Bereich verlegt, der sich wie gewisse Töne mit niedrigen Frequenzen begnügt. Auf alle Fälle stellten wir im nachhinein fest, dass wir nie so etwas wie einen Nachtisch oder überhaupt etwas Süßes serviert bekamen. Bei jedem Mittagessen stand eine Suppenschüssel aus Weißblech auf dem Tisch, aus welcher der Tischzensor in die Teller schöpfte. Eine dicke Mehlpampe gab den Oberton an. Daneben dominierte die aromatische Verlorenheit eines Kartoffelsalats, den wir »Schlonz« tauften. Nur nach der Fronleichnamsprozession gab es etwas Besseres. Auf der »Herrentribüne«, an der der Vorsteher, die Repetenten und manchmal ein Gast saßen,
Weitere Kostenlose Bücher