Mein Glueck
mit Lust lutschte, die Zunge, die man hinter dem Rücken der Nachbarin herausstreckte, oder das missachtete Verbot, sich nackt im Spiegel zu betrachten? Nach und nach wurde aus »Sünde« ein knusprig verführerisches Wort, für das man Inhalte suchte, die des Schauers, den man empfand, würdig wären. Es kam zur antizipierenden Lust an der Sünde, zur Verwaltung von Versuchungen. Ich erinnere mich an die Übertreibungen im Beichtstuhl, mit denen man sich interessant zu machen suchte. Zumindest diese Lügen waren Sünden. Es war ein entsetzliches, erpresserisches Spektakel, das der Vorsteher aufführte. Denn neben der Hölle, die er uns nicht nur in allen Farben, Gerüchen und Gluten beschrieb und androhte, hatte er noch ein viel stärkeres, soziales Druckmittel. Derjenige, der sich dem Gesetz des Hauses nicht beuge, werde unerbittlich seinen Platz hier verlieren. Später dachte ich, der Vorsteher habe Joyce’s A Portrait of the Artist as a Young Man ( Ein Porträt des Künstlers als junger Mann ) als Modell für die Fahrt ins Inferno genommen, auf der er uns so lustvoll und lüstern als Führer begleitete. Dabei rollte er die Augen, Kopf und Hals schwollen puterrot an. Irgendwie wirkte diese Wut nackt und schamlos. Offensichtlich gab es für ihn nur eine miserabilistische, dreckige Sünde. Er benannte sie nicht. Er insinuierte Dinge, wagte es jedoch nicht, die wuchernden Triebe, denen er wohl selbst zugeneigt war, beim Namen zu nennen, schaute dabei den einen oder anderen an, ohne dass es sich dabei um eine präzise oder offene Opfersuche gehandelt hätte. Es war eine kastrierte Reinheit, eine Keuschheit, der die Gier aus den Augen sprang. Eines der Bücher, die man uns in die Hand gab, Franz Weisers Das Licht der Berge , fasst diese Unfähigkeit zu leben fabelhaft zusammen. Nur der tödliche Sturz beim Aufstieg in schwindelnde Höhen, wo das Edelweiß blüht, vermag die unerlaubte, verdrängte Passion des Helden auf die unbefleckte Maria zu übertragen. Und unbefleckt, rein, das waren vielleicht die schmutzigsten Wörter, mit denen im Haus gehandelt wurde. Alle lasen diesen jämmerlichen Kitsch mit einer Vorfreude auf die kommende Kasteiung. Es dauerte lange, bis ich diesen jämmerlichen Idealismus und diese Vorstellung einer Leiblosigkeit hinter mir lassen konnte. Wenn ich daran denke, mit welcher Gewalt eine Therese von Konnersreuth, die Stigmata trug, auf uns einwirkte. Von ihr wussten wir, dass sie seit 1926 außer der Kommunion nichts zu sich genommen hatte. Zum Glück stieß ich auf Jonathan Swifts Gedicht »The Lady’s Dressing Room«, in dem der Satz »Oh! Celia, Celia, Celia shits!« den ganzen virginalen Zauber aus der Welt schaffte. Gewiss, auch für mich wurden die Begegnung und der Umgang mit dem Gebirge wenig später folgenschwer. Es ging dabei nicht um touristische Besteigungen, sondern um Erweckungserlebnisse, die mit Literatur, Kunst und Religion verbunden blieben. Von »être la montagne« (»Gebirge sein«) sprach mein Freund Bram Hammacher, dessen hundertsten Geburtstag wir später in Paris, im Restaurant »Pharamond« zusammen mit Françoise Cachin und Gérard Régnier feierten. Man kommt nicht darum herum, bei dieser unerhörten Formulierung an Georg Büchner zu denken, der in der Novelle Lenz den inneren Aufruhr mit dem Eingangssatz umschreibt: »Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg.« Es geht dabei nicht um Topographie, sondern um die Erfahrung mit inneren Bergen. Und es muss eine erste Erfahrung sein. Ein ekstatischeres Thema lässt sich kaum vorstellen. Denken wir daran, wie Goethe auf seiner ersten Reise zu den Gipfeln der Schweizer Alpen, am 26. Oktober 1779, das Mont-Blanc-Massiv mit den noch jungen Augen am Spätnachmittag im Alpenglühen erlebt: »Es sah fast ängstlich aus. Wie ein gewaltiger Körper von außen gegen das Herz zu abstirbt, so erblassten alle langsam gegen den Mont Blanc zu, dessen weißer Busen immer noch rot herüber glänzte und auch zuletzt uns noch einen rötlichen Schein zu behalten schien, wie man den Tod des Geliebten noch gleich bekennen, und den Augenblick, wo der Puls zu schlagen aufhört, nicht abschneiden will.« Die Schilderung passt zu dieser Periode, die die vollkommene Leere und die an schiere Dimension gebundene Unheimlichkeit des Erhabenen, die »Größenschätzung der Naturdinge«, die Kant beschreibt, aufspürt. Das Bodenlose der Berge, ihre Abstürze, die mit einem Schlag erlebbare Ikonographie werden, dies gehört nicht zuletzt zu Zeiten Goethes
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