Mein Glueck
wurde bei solchen Gelegenheiten Wein ausgeschenkt. Und nach dem Tischgebet am Ende des Essens gab es reichlich Interessenten, die sich auf die Jagd nach den »Herrengläsern« machten und die Reste ausschlürften.
Die Literatur hatte mich völlig gepackt zu dieser Zeit. Vor allem war es eine schwärmerische, ekstatische Naturlyrik, die mich dazu verlockte, selbst zu schreiben. In den Gedichten von Hölderlin, Trakl, Rilke oder Hesse gab es, wie in der Musik, Lieblingsstellen, die ich endlos wiederlas. Nichts traf mich so wie eine Strophe aus Hölderlins »Brot und Wein«: »die schwärmerische, die Nacht kommt, / Voll mit Sternen, und wohl wenig bekümmert um uns Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen / Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf«. Es war dieses Bild und diese Emotion, die ich suchte und bei Vollmond über den Bergen der Schwäbischen Alb aufsteigen sah. Dieses Bild ist mir heute noch physisch präsent. Immer noch spüre ich, wenn ich diese Verse aufsage, eine genaue, unverwechselbare Kühle der Nacht. Daneben war es die Musik. Ein Lehrer, Studienassessor Betzler, erlaubte mir, allein nach dem Unterricht in der Klasse zu bleiben und Schallplatten zu hören. Kaum etwas wühlte mich mehr auf als die vierte Symphonie von Robert Schumann, in der sich die Melodie wie ein Schwellkörper bis zum Platzen anzuspannen schien. Vor allem Violinkonzerte rissen mich mit. Grieg, Brahms, Schumann, Tschaikowsky oder der langsame Satz in Glasunows Konzert a-Moll versetzten mich in Ekstase. Ich war selig, als ich kurz nach meiner Ankunft in Paris in der Villa Saïd, in der damals vorübergehend der deutsche Botschafter seine Empfänge gab, der Tochter Glasunows, der Pianistin Elena Glasunow, vorgestellt wurde. Der Kulturattaché der Botschaft, Dr. von Tischowitz, kümmerte sich nach meiner Ankunft in Paris auf reizende Weise um mich und schickte mir Einladungen zu den Veranstaltungen. Es war ein Mann, der bereits während der Okkupation in der deutschen Botschaft gearbeitet hatte. Ich hörte nichts Negatives über ihn. Für die Franzosen war er Persona grata geblieben. Und er tat alles, was in der frühen Nachkriegszeit möglich war, um in Paris Interesse an Deutschland zu wecken. Werner Ruhnau berichtete, von Tischowitz hätte dafür gesorgt, dass er und Yves Klein den Auftrag, den sie für das Foyer der Gelsenkirchener Oper übernommen hatten, in Paris vorstellen konnten. Ruhnau hatte dies schriftlich bestätigt: »Als der deutsche Kulturattaché, Dr. von Tischowitz, dies hörte, lud er die Stadtväter von Gelsenkirchen nach Paris ein. Er besorgte Yves Klein und mir in der Universität Sorbonne einen Raum für Vorträge. Mit diesem Tag war Yves Klein in Paris ein gemachter Mann.« Später hörte ich mit Erschütterung, dass der gebildete, elegante Tischowitz nach seiner Pensionierung den Wegzug aus Paris nicht ertragen hatte. Er warf sich in Deutschland vor einen Zug, der auf dem Weg nach seinem Paris war. Ich versuchte, über die Botschaft und das Außenministerium etwas über den Mann zu erfahren. Doch vergeblich. Und offensichtlich gibt es, wie mir erklärt wurde, weder in Paris noch in Berlin Akten über ihn.
Auf Hunderten Seiten vermischte ich in dem Tagebuch, das ich in meiner Konviktszeit führte, eine brennende Religiosität mit einer eher undifferenzierten Naturbeschreibung. Wie konnte ich nur so tief in eine vermeintliche Höhe fallen. Wenig Konkretes findet sich auf den Seiten, die ich damals bis zum Rand füllte. Allein die Exerzitien und Einkehrtage habe ich präziser beschrieben. Zu dem Punkt »Meine Leidenschaften muss ich eindämmen« notierte ich als Siebzehnjähriger: »Mein Violinspiel«. So gut wie kein Ereignis wird erwähnt, auch die Kameraden, die Lehrer spielen so gut wie keine Rolle in diesen Aufzeichnungen. Im Vordergrund stehen die Spaziergänge und Wanderungen in einer Umgebung, die ich abgöttisch zu lieben begann. Doch kaum taucht in meinen Schwärmereien einmal ein präziser Ort auf, den ich auf den Wanderungen kennengelernt habe. Es war ein gefährliches Eintauchen in die Natur, eine Flucht vor allem Zivilisatorischen, vor allen historisch aufgeladenen Orten. Kaum jemand hätte sich rettungsloser als ich in ein Gestrüpp aus Religiosität und Naturgefühl verirren können. Es war ein Leiden unter den eigenen Empfindungen, das der Religionsunterricht noch verstärkte. Heute kann ich die schwarzen Hefte des Tagebuchs nur mit Widerwillen aufschlagen. Der
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