Mein Glueck
Ton, mit dem ich mich damals so ganz und gar identifizierte, der blinde Glauben, Einträge ohne jeden ironischen Abstand, keinerlei Auflehnung gegen die Autorität von Kirche und Schule, all dies wirkt auf mich heute abstoßend und widerlich. Es war ein Beharren auf den persönlichen Gefühlen, eine poetische Rechthaberei, die alles andere, alles, was von außen kam, verachtete und entwertete. Aus diesem Grunde interessierten mich in der Schule auch Mathematik, Physik und Chemie viel weniger als Geschichte und Literatur. Sie entmythisierten meine Vorstellungswelt und versetzten mich in eine beklemmende, beengende Landschaft, in der alles endlich und vermessbar schien. Immer wieder griff ich damals zur Formel von den »wartenden Tagen«. Selbstverständlich pickte ich mir aus dem Angebot, das uns im Konvikt und im Religionsunterricht unterbreitet wurde, den kosmologischen Gottesbeweis heraus. Eigentlich gab es kaum Zweifel an der Existenz Gottes, es bestand nur eine gewisse Unsicherheit darin, herauszufinden, wie sich dieser Glaube am angenehmsten absichern ließe. Denn beim kosmologischen Beweis blieb die Realität gewissermaßen auf das Schöne und Emphatische konzentriert, auf ebendas, was ich von der Welt sehen und haben wollte. Einfach und unbedingt zu glauben war mir lieber als die Pascal’sche Wette, die Kosten und Nutzen des Glaubens gegeneinander ausspielte und dann argumentierte, es sei schließlich doch sicherer zu glauben. Diese Einstellung erschien mir wie eine Art religiöse Unfallversicherung und zu sehr von Kalkül geprägt. Für einige Zeit bedrohte diese unbestimmte Lust auf Schönheit und Emphase mein ganzes Denken und Lernen. Ich spürte es besonders bei den Schulaufsätzen und Klassenarbeiten. Sobald ich auf ein Thema stieß, das mir gestattete, in eine vage Impression zu fliehen, tat ich das.
Mit einem Schlag wurde mir bewusst, dass ich diese sterilen Attitüden nicht beibehalten konnte. Mir ging es wie dem jungen Roderer in Stifters Nachkommenschaften , der, um den Weg ins konkrete Leben zurück zu finden, seinen Lebenstraum zerschneiden muss. Um sich zu befreien, opfert er das riesige Panorama vom Dachstein, an dem er lange gearbeitet hat. Der Vater bestärkt den Sohn und sagt zu ihm: »Deine Bilder sind außerordentlich schön; wenn aber deine Gedanken höher sind, und du dich durch deine Hervorbringungen gedemütigt fühlst, vertilge sie.« Es war ein unerwartetes, rettendes Glück, dass wir ab einem gewissen Schuljahr auf völlig neue Weise im Fach Deutsch unterrichtet und zur Literatur geführt wurden. Wir bekamen einen Lehrer, Julius Böheim, der, weil er Sachse war und mit ungewohnt nasalem Akzent sprach, von vielen hemmungslos verspottet wurde. Doch dieser Mann war für mich und meinen Hunger nach Literatur und Interpretation ein wahrer Segen. Es war nicht nur die Genauigkeit, die er uns abverlangte. Der ungewohnte Umgang mit Text, das Eindringen in stilistische Strukturen beeindruckten mich. Auch während des Studiums habe ich eine solch spannende und konzentrierte Nähe zum Text kaum mehr erlebt. Im Grunde lernte ich bei ihm das, was mir am meisten gefehlt hatte, die Fähigkeit, zu mir und meinen unsteten Emotionen die nötige Distanz herzustellen. Für mein Leben sollte dieser Unterricht entscheidend werden. Selbstkritik ist seitdem ein fester Bestandteil meines Lebens. Bis heute leide ich unter dem Unglück des abgeschlossenen Textes. Der Lehrer insistierte darauf, dass wir ganz langsam in die Sätze eindrangen und das Wissen um sie wie ein Echo in die Beschäftigung mit den kommenden Seiten integrierten. Sooft es sich ergab, begleitete ich ihn auf dem Nachhauseweg vorbei am Hochturm zu seiner Wohnung in der Zimmererstraße und war überglücklich und stolz, mit ihm reden zu können. Offensichtlich tat ihm wiederum meine Wissbegierde gut. Andeutungen seiner verängstigten Frau, die oftmals müde und mutlos einen Kinderwagen schob, entnahm ich, dass ihr Mann wegen der ständigen Spottsucht seiner Schüler äußerst verzweifelt war. Er war nicht der einzige Unglückliche unter den Lehrern. Einer der feinsten Menschen hingegen, der Mathematiklehrer Dr. Richard Fader, wurde von allen geachtet und geliebt. Auch nach dem Abitur blieb ich mit ihm in Kontakt. Er schnitt für mich Beiträge über Kunst aus der Stuttgarter Zeitung aus, von denen er annahm, dass sie mich interessierten. Vor einem Klassentreffen ging ich Jahre später bei seiner Wohnung in der Nähe des Münsters vorbei,
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