Mein Gott, Wanda: Roman (German Edition)
den Sandsack mit voller Wucht gegen Herrn Gilder.
»Herr Gilder!«, rief Wanda erschrocken. Sie ignorierte alles um sie herum, kümmerte sich nicht um die tobenden Männer, sondern rannte dem alten Mann hinterher, der umgehend wieder aus dem Herkules hinaustorkelte. »Warten Sie doch! Sind Sie verletzt?«
Er hörte Wanda nicht. Wahrscheinlich hatte der Sandsack endgültig Herrn Gilders Gehörgänge zertrümmert, denn er sah sich nicht einmal um, sondern stieg vor dem Herkules wieder auf sein klappriges Altherrenrad und fuhr im Zickzack davon.
»Herr Gilder!« Wanda biss sich auf die Lippen. Verdammt noch mal. Was würde er jetzt von ihr denken? Kommen Sie doch ruhig im Studio Herkules vorbei, Herr Gilder, und lassen Sie sich mit Brachialgewalt einen Sandsack von der Größe eines Kindersarges ins Gesicht schmettern. Phantastisch. Wenigstens hatte der Zweikampf ein Ende gefunden, Ritschie wurde gerade von seiner Freundin weggezogen, die beruhigend auf ihn einredete, der Boxer unterhielt sich mit dem dritten Mann und tippte sich verächtlich an die Stirn. Der Mann nickte zustimmend, wenig später gingen die beiden.
Als auch Ritschie kurz danach fluchend und mit seiner Freundin im Schlepptau verschwunden war und nur noch ein einsamer Besucher rücklings über dem riesigen Ball lag und sich ächzend immer wieder aufrichtete, ging Wanda seufzend nach draußen auf die Straße, um frische Luft zu schnappen. Ein Königreich für eine Zigarette, dachte sie und schalt sich gleich selber. Natürlich würde sie nicht wieder anfangen zu rauchen. Und schon gar nicht wegen des Herkules. Frustrierend war es aber dennoch. Alles. Der verschwundene Enrico, der ihr die Reise ihres Lebens vermasselt hatte, von der Aussicht auf eine neue Beziehung ganz zu schweigen, die jungen Bodybuilder-Typen, denen sie so egal war wie ein Stuhl, die blöden Motorradfritzen, die schon wieder im Innenhof herumwerkelten, vor denen sie sich gruselte und wegen denen sie sich nur vorn vor die Tür traute, die Tatsache, dass sie mit niemandem richtig über alles reden konnte. Biggi verstand das nicht, und Marianne hielt Wanda für übergeschnappt, weil sie sich das hier antat. Selbst der nette Kai war nicht wieder erschienen. Hoffentlich kam Franziska bald.
Drüben vor dem Friseur, keine zehn Meter entfernt, stand jetzt ein Pulk älterer Frauen und schwatzte. Freitag ist Rentnertag mit Preisen wie vor zwanzig Jahren, verhieß ein großes Schild im Schaufenster. Na klar, da rannten sie alle hin, um sich die Haare machen zu lassen. Biggi würde vor Neid platzen, wenn sie das sah. Was man da sparen konnte! Aber eigentlich hätte Wanda selbst gern alles stehen und liegen gelassen und sich einfach dem warmen Wasser und der Dudelmusik in einem Friseursalon überlassen.
Warum hatte sie nur keine Notzigarette mehr? Sie nahm den kleinen Bleistift aus ihrer Tasche zwischen Zeige- und Mittelfinger, steckte ihn in den Mund, tat, als ob sie daran zog, stieß eine unsichtbare Rauchwolke in die Luft und schloss genießerisch die Augen. Albern, aber es war besser als nichts. Wanda »rauchte« gleich noch mal. Als sie sich umdrehte, um wieder hineinzugehen, blickte sie in das strenge Gesicht der Verhaltenstherapeutin, die sie vom Fenster im Nachbarhaus aus beobachtet hatte. Wie es aussah, machte sie sich gerade ein paar Notizen.
8 Auferstehung
Gegen 15.00 Uhr wurde es noch leerer, und nachdem der letzte Besucher verschwunden war, stand Wanda plötzlich alleine im Raum. Sie atmete auf und drehte als Erstes die schreckliche Beschallung leiser. Nach einer Weile des Suchens fand sie sogar einen Klassiksender, auf dem eine Cellosonate in tiefen Tönen herbstlich dahinbrummte. Herrlich. Zeit für einen weiteren Tee und einen Anruf bei Stefan, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Doch noch bevor das Teewasser richtig kochte, ging die Tür wieder auf.
»Ist die Bank frei?«
Wanda blinzelte. Sie war ein bisschen kurzsichtig, aber wenn sie nicht alles täuschte, hatte der junge Mann da Gelbsucht. Ein Wunder, dass er sich noch so flott fortbewegte. »Welche Bank?«, fragte sie. Die Hantelbänke waren alle leer, sah er das nicht?
»Die Sonnenbank. Die war doch so ewig kaputt«, erklärte der Mann nachsichtig. Er stand jetzt genau vor Wanda, und sie musste sich heimlich korrigieren. Er war gar nicht mehr so jung, sondern einfach nur nicht besonders groß, und er war auch nicht gelb, er war gelbbraun, als hätte man sein Gesicht aus einem exotischen Tropenholz
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