Mein Herz schlaegt fur uns beide
hören. Ich hätte gern gewusst, ob sie über Laura redeten.
Mir fielen gerade die Augen zu, als Tante Shelly ins Schlafzimmer kam. Ich schaltete die Schneekugel ein.
Tante Shelly: Noch wach?
Ich: Ja.
Sie setzte sich auf Lauras Bett und zog die Socken aus. Ihre Zehennägel waren dunkelrot lackiert. Sie zog eine Flasche Gesichtswasser und einen Wattebausch aus ihrer Handtasche.
Tante Shelly: Zeit, die Schmiere wegzuwischen.
Ich sah zu, wie sie ihr Make-up entfernte. Es schien ewig zu dauern, aber ich fand sie ohne die »Schmiere« viel hübscher, und als sie fertig war, schaute sie mich wieder an und lächelte.
Ich: Besser.
Sie lachte.
Tante Shelly: Ach, ich weiß ja nicht.
Ich: Doch. Viel besser. Hübscher denn je.
Ich ließ mich auf dem Bett zurücksinken und dachte an damals, als Laura und ich Mums alte Make-up-Tasche gefunden hatten. Darin lagen lauter kleine Flaschen und Schachteln, Lippenstifte und Pinsel, Lidschatten und Puder und ein klebriges Glitzerzeug, das schrecklich tropfte. Am Ende hatten wir uns mit Lippenstift die Wangen vollgemalt und sahen aus wie Hiawatha.
Tante Shelly: Ich höre, du gehst jetzt nach der Schule immer zu Oma. Macht das Spaß oder musst du dich dauernd »sinnvoll beschäftigen«?
Ich lachte.
Ich: Musstest du dich immer sinnvoll beschäftigen, als du noch klein warst?
Tante Shelly: Immer! Und wenn Oma mich nicht beschäftigt hat, dann deine Mum.
Ich: Und wollte Mum auch immer kommandieren?
Tante Shelly: Ja! Sie hat mir immer gesagt, was ich tun und was ich lassen sollte. Was ich spielen sollte und was nicht, bis …
Ich grinste.
Tante Shelly: Bis ich genug davon hatte und mir nichts mehr sagen ließ.
Ich: Laura hat immer …
Tante Shelly: Ja, sie war genau wie deine Mum. Wollte auch ganz schön viel kommandieren, die Kleine, was?
Ich lachte wieder und drehte mich auf die Seite. Ich erinnerte mich an einen Sommernachmittag vor zwei Jahren, als Mum Laura und mir geholfen hatte, eine Höhle im Hof zu bauen. Wir nahmen ein altes Zelt, ein paar von Dads großen Kartons, jede Menge Kissen und einen alten Schlafsack mit kaputtem Reißverschluss. Mum hängte ein weißes Laken über alles, das man anheben musste, um hineinzukommen. Laura und ich aßen dort zu Mittag und hörten uns Kassetten mit Geschichten an. Wir hatten total viel Spaß, aber dann begann Laura mich herumzukommandieren: »Setz dich dahin! Setz dich nicht dorthin! Ich will das runde Kissen. Geh das Supergeheime Buch holen.« Sie kommandierte mich so lange herum, bis wir fast einen richtigen Streit hatten. Ich sagte: »Hör auf mir zu sagen, was ich tun soll, du Kommandierstiefel.« Sie setzte sich gerade hin, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: »Du kannst ja gehen, wenn dir das nicht passt.« Also stand ich auf, riss das weiße Laken herunter und lief nach oben in unser Zimmer. Nach einer Weile ging ich ins Badezimmer und schaute aus dem Fenster. Ich konnte sehen, dass sie so tat, als ob in der Höhle immer noch alles ganz toll wäre. Ich konnte hören, wie sie mit sich selbst plauderte. Aber ich kannte Laura. Alleinsein lag ihr gar nicht. Und bald machte sie sich auf die Suche nach mir.
Ich: Manchmal habe ich gesagt, dass ich das, was sie wollte, nicht machen wollte, nur damit … nur damit …
Tante Shelly: Nur damit sie dich nicht herumkommandierte?
Ich nickte.
Tante Shelly: Das hab ich bei deiner Mum auch gemacht. Einmal hab ich so getan, als ob ich wirklich alles blöd fand, was mit Ballett oder Tanzen zu tun hatte, weil sie davon so begeistert war. Sie hat mir immer gesagt, was ich gut finden sollte und was nicht, vor allem nachdem unser Dad gestorben war. Seitdem wollte sie doppelt so viel rumkommandieren.
Ich hatte Mums Dad nie kennengelernt. Er war gestorben, als sie noch studierte, aber ich hatte viele Fotos von ihm gesehen.
Ich: Wie war dein Dad denn?
Sie zog sich die Decke über die Füße.
Tante Shelly: Sehr lustig und lieb. Er hat gern gelesen, so wie du.
Ich: Warst du sehr, sehr traurig, als er …
Tante Shellys Stimme wurde sehr leise.
Tante Shelly: Ja, das war ich. Ich war sehr traurig. Aber das wird besser, weißt du. In dir bleibt immer so ein kleines trauriges Gefühl, zum Beispiel, wenn ich etwas sehe, das mich an ihn erinnert, kann mich das traurig machen. Aber manchmal, wenn etwas im Fernsehen kommt, das ihm gut gefallen hätte, oder wenn ich ein Lied höre, das er gemocht hätte, oder einen Witz, über den er gelacht hätte, dann lache ich sozusagen für ihn
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