Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
Jahre nach der Wende: wie ich nach den Turbulenzen des Umbruchs in meiner neuen Heimat Schwarzwald neue Freiheiten entdeckte und dem Erfolg hinterhersprang
In Feierlaune. Unser Heimtrainer Wolfgang Steiert mit seinen Musterschülern Martin Schmitt – und mir
Der 9. November 1989 war kein Tag wie jeder andere. Auch für mich nicht. Denn an diesem Donnerstag, der zum »Schicksalstag der Deutschen« werden sollte, hatte ich meinen 15. Geburtstag. Den wollten wir am Samstag mit der Familie in Johanngeorgenstadt nachfeiern. Oma Anita, zwei Tanten, die beide Monika hießen, Onkel Jürgen, Onkel Werner und Onkel Klaus und mein Cousin Ronny würden zu uns zum Kaffee kommen. Es würde »Donauwelle« geben, einen Kuchen vom Blech mit Kirschen, Buttercreme und Schokolade. Meinen Lieblingskuchen.
Hier, in der KJS in Klingenthal ging alles seinen gewohnten Gang.
Das, was draußen in der Welt passierte, die große Politik, die Turbulenzen der letzten Tage der DDR – das alles war für uns KJS-Schüler weit weg. Gerade hatte Günter Schabowski, im SED-Politbüro zuständig für Medien, während einer Pressekonferenz erklärt: »Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.«
Dann kam noch diese berühmte Nachfrage eines BILD-Reporters: »Wann tritt das in Kraft?«
»Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.«
Schabowskis etwas verwirrende Mitteilung multiplizierte sich bekanntlich in der Hektik dieses historischen Tages zu einer sensationellen Nachricht mit unglaublichen Folgen: »Die DDR-Grenze ist offen.«
Mein Papa startete noch nachts in den Westen
Als die »Aktuelle Kamera« lief (die tägliche Nachrichtensendung der DDR), während wir im Fernsehzimmer saßen, staunten wir KJS-Schüler nicht schlecht. Die Nachrichtensprecherin Angelika Unterlauf hatte gerade Folgendes ganz offiziell von ihrem Manuskript abgelesen: »Alle DDR-Bürger dürfen kurzfristig ohne besondere Angabe von Gründen private Reisen ins Ausland unternehmen.«
Ich dachte in diesem Moment: »Mensch, dann brauchst du nicht mehr Lkw-Fahrer werden wie Onkel Sepp, wenn du nach Spanien oder Italien kommen willst.«
Zu diesem Zeitpunkt strömten in Ostberlin bereits Zigtausende zur Mauer, über die Grenzübergänge und wurden begeistert von Westberlinern begrüßt. Schaulustige kletterten aufs Brandenburger Tor, erste »Mauerspechte« hämmerten Löcher in die Berliner Mauer. Deutsche aus Ost und West fielen sich mit Tränen in den Augen in die Arme. Und »Wahnsinn« wurde zu einem Wort, das Millionen Menschen jetzt wahnsinnig oft bemühten.
Mein Papa fackelte nicht lange. Am Freitag, einen Tag nach der Maueröffnung, holte er mich aus Klingenthal ab. Am Samstag feierten wir meinen Geburtstag. Als ich schon im Bett lag, packte Papa ein paar Sachen zusammen, setzte sich in seine Mittel-klasse-Limousine der Marke Wartburg und fuhr gegen 23 Uhr in Johanngeorgenstadt los. Er hatte es zwar nicht ganz so eilig wie ein unbekannter Trabi-Fahrer, der den Slogan »Freie Fahrt für freie Bürger« zwei Tage vorher allzu wörtlich nahm und der in seiner 26-PS starken Pappschachtel durch die geschlossene Ortschaft Schnaittenbach in der Oberpfalz raste. Er wurde geblitzt – mit 100 Sachen drauf.
Aber auch Papa fuhr zügig, die ganze Nacht durch. Als er morgens um sieben den Mittleren Ring in München erreichte, hupten ihn viele Autofahrer begeistert an. Er und sein papyrusweißes Viertakt-Töfftöff waren die Attraktion im bayerischen Berufsverkehr.
Papa machte noch weiter, bis nach Burgau im schwäbischen Landkreis Günzburg, da wohnten zwei Tanten und Onkel Georg. Der sagte mitten in die erste Wiedersehensfreude hinein: »Mensch, komm doch rüber.«
Alle Lebensläufe gerieten total durcheinander
Genau das wollte Papa auch. Plötzlich fühlte er sich befreit, dem engen Lebenskorsett der DDR entkommen. Jahrelang hatte er davon geträumt, dass er im Westen lebt. Er wollte immer sein eigenes Haus bauen. Jetzt war alles möglich.
Er suchte sich gleich am nächsten Tag Arbeit. Schon die zweite Firma in Burgau, bei der er sich vorstellte, nahm ihn. Er konnte als Lackierer anfangen. Als erster Arbeitstag wurde der 11. Mai 1990 vereinbart, nicht früher, denn mein pflichtbewusster Papa wollte in seinem Johanngeorgenstädter Betrieb die Kündigungsfrist einhalten.
Meine Mama wurde von seinen spontanen Plänen
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