Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
erste Mal deutscher Meister.
»Ist alles so schön bunt hier!«
Klar, das neue Leben in meiner neuen Welt gefiel mir natürlich. Aber es forderte, es überforderte mich auch. Ich fühlte mich frei. Bisher war ich ja in ein total festes System eingebunden. In Klingenthal wurden wir zu jedem Training geführt. KJS-Erzieher begleiteten uns bis zum Bus, und der Bus brachte uns zur Trainingshalle oder zur Sprungschanze. Dort nahmen uns die Trainer in Empfang. Alles war schön geregelt. Es gab Rahmentrainingspläne und die wurden strikt eingehalten. Ich hatte meinen Platz in der Gruppe. Bei uns im Osten wurde insgeheim ja schon mal gespottet: »Bei uns kann jeder werden, was er will – ob er will oder nicht.« Konnte ich jetzt wirklich machen, was ich wollte?
Ich musste meinen Platz in meinem neuen Leben erst noch finden. Keiner ging mehr mit. Und es stimmte auch für mich, wie die Ostberliner Rockmusikerin Nina Hagen den westlichen Lebensstil mal besungen hat: »Ist alles so schön bunt hier!«
Ich begann, meine neue Freiheit zu genießen. Ich machte die Augen auf. Ich genoss es, das Leben, in dem ja bislang alles strikt geregelt war, plötzlich als Abenteuer zu erleben. Es machte Spaß, in schnellen Autos zu sitzen, in »wirkliche« Discos zu gehen und über den Tellerrand meines bisher so überschaubaren Lebens hinauszuschauen.
Mein Papa bezeichnet meine Wendejahre heute als »Flegeljahre«, als »Gammeljahre«. Für mich waren es »Zwischenjahre«. Im Nachhinein waren es für mich sogar ganz wichtige Zwischenjahre. Ich musste mich erst finden, zurechtfinden. Ich musste und wollte gewisse Lernprozesse durchmachen. Ich musste und wollte doch erst noch erwachsen werden.
»Als Sven mit 18 in die Leistungsgruppe der Männer wechselte, stürzte er ziemlich oft, hatte viele Verletzungen, bekam einen Knacks und hatte mit seinen Traumata nicht mehr das Herz zum Skispringen. Eigentlich war er schon weg vom Fenster. Der DSV mahnte: Wie lange wollt ihr den noch mitschleppen? Aber er schaffte es in die Weltspitze.« Bundestrainer Reinhard Heß
Mein Leben im Skiinternat Furtwangen
»Der zentral gelegene Standort Furtwangen im Schwarzwald bietet mit seinem breit gefächerten Schul- und Ausbildungsangebot, seiner topografischen Lage und der Schneesicherheit ideale Voraussetzungen. Nahezu alle für das Training und den Wettkampf notwendigen Sportanlagen sind am Ort vorhanden. Ergänzende Einrichtungen befinden sich im näheren Umkreis der Stadt.« So, wie mein neues Universum, das Skiinternat Furtwangen (SkiF) hier offiziell beschrieben wird, klingt das ziemlich öde. Aber so schlimm war es dort nun wirklich nicht. Im Gegenteil. Ich lebte mich schnell ein. Das angeschlossene Wohnheim »Don Bosco«, in dem ich zusammen mit 23 weiteren Nachwuchsathleten wohnte, wurde von der Ordensgemeinschaft der Salesianer geführt. Vom Gründer des Ordens, dem heiligen Johann Bosco, ist ein sympathisches Zitat überliefert: »Fröhlich sein, Gutes tun und die Spatzen pfeifen lassen«. Auch die Ordensbrüder, die uns im Wohnheim beaufsichtigten, zeigten sich uns jungen Sportlern gegenüber keineswegs sittenstreng. Allerdings wurde die Bettruhe überwacht. Um 21 Uhr musste Ruhe sein. Wenn nicht, kam schon mal einer der Salesianer und klopfte an. Alles war viel lockerer. Auch das Training. Und ab und zu habe ich auch mal Pommes mit Ketchup gegessen oder Käsebrote mit Zucker obendrauf. Wie die anderen auch. Und meine Haare habe ich in dieser Zeit manchmal gefärbt. Wie die anderen auch.
Wir wohnten in der ersten Etage, jeweils in Zweibettzimmern. Von Klingenthal war ich ein Fünfbettzimmer gewohnt. Auf unserem Flur hatten wir einen Fernsehraum, Küche und Duschen.
In den drei Etagen über uns waren Jugendliche aus teilweise schwierigen Familien untergebracht, die unter der Obhut der Salesianer eine Ausbildung als Handwerker bekamen. Wir hörten sie manchmal nachts, wenn einer mal wieder eine Tür demolierte.
Auch ich begann eine Lehre, als Kommunikationselektroniker. Ich hätte viel lieber etwas gemacht, das mit Autos zu tun hat. Mich interessierten Automechanik und Autodesign. Aber so eine Lehre konnte ich hier leider nicht machen.
Normalerweise hätte die Lehre als Kommunikationselektroniker zweieinhalb Jahre gedauert. Doch wegen der vielen Trainingseinheiten, Lehrgänge und Wettkämpfe war sie auf vier Jahre angelegt.
Besuch im Skiinternat Furtwangen – 18 Jahre später
Mein Schicksal als Ossi
Im ersten Jahr teilte ich mein Zimmer
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