Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
fliegst.
Ästhetisch fliegen hieß bis Ende der 80er-Jahre: beide Sprungskier schön parallel in der Luft zu halten. Doch beim Training machte der Schwede Jan Boklöv einen Fehler. Seine Skier gerieten in der Luft – statt lehrbuchmäßig parallel – in eine komische V-Stellung. Das Verrückte: Mit der flog er deutlich weiter als sonst. Im Wettkampf wiederholte Jan Boklöv diese Variante. Mit Erfolg, auch wenn es für ihn stets satte Punktabzüge gab. Erst 1994 wurde der revolutionäre V-Stil von der FIS offiziell abgesegnet.
Der V-Stil bietet dem Wind mehr Angriffsfläche und sorgt für mehr Auftriebskraft als der Parallelsprung. Um wie viel, berechnete der Biomechanik-Professor Gert-Peter Brüggemann von der Deutschen Sporthochschule Köln bei den Olympischen Winterspielen in Lillehammer (1994) anhand von dreidimensionalen Sprungaufnahmen. Sein erstaunliches Ergebnis: Das Luftpolster beim V-Stil trägt um satte 35 Prozent besser, verglichen mit der alten Technik. Je stärker du deine Skier nach außen drücken kannst, ohne sie übermäßig zu verkanten, umso größer wird die Spannweite. Und ähnlich wie bei einem Segelflugzeug verbessert sich so die Gleitfähigkeit, weil sich ein großes Luftpolster bildet – das dich trägt und das »Fliegen« unterstützt.
Meine O-Beine sind beim V-Stil ein Vorteil
Eine Laune der Natur bescherte mir Körperteile, über die ich früher nicht gerade glücklich war: ausgeprägte O-Beine. Doch ausgerechnet sie haben sich bei der Umstellung auf den V-Stil als Vorteil erwiesen. Sie begünstigen tatsächlich den Ritt auf dem Luftpolster.
Dieses »genetische Geschenk« erklärte mir Wolfgang Steiert, damals mein Trainer im B-Kader in Hinterzarten, irgendwann mal mit einem Grinsen im Gesicht. Dass es ja darauf ankommt, die Skier in der Luft möglichst plan zu halten, um eine möglichst große Tragfläche zu bilden. Dass beim V-Stil die Skier aber, den biomechanischen Gesetzen folgend, seitlich angestellt werden. Und dass meine O-Beine auf natürliche Weise für einen Ausgleich sorgen – und die Skier wieder plan stellen.
Der V-Stil erfordert von uns Springern wirklich richtig Mut. Er verlangt eine total unnatürliche Aktion. Du springst nach vorn raus – in ein Nichts. Du musst den Körper zwischen die Skier in dieses Nichts legen. Natürlich sträubt sich innerlich erst mal alles dagegen. Du musst lernen, dich zu überwinden.
Was das Fliegen noch begünstigt
Die Flugphase sollte möglichst ruhig und die Flugkurve möglichst parallel zum Hang verlaufen, der unter der Schanze in einem konvexen (nach außen gewölbten) Bogen abfällt. Dort, wo sich die Kurve des Hangs mit deiner Flugkurve schneidet, liegt der Touchdown, dort landest du.
Die Flugdauer kann über ein Luftpolster durch eine größere Fläche der Sprunganzüge zusätzlich unterstützt werden. Zu meiner Zeit waren solche Anzüge glücklicherweise noch erlaubt. Sie mussten auf der Vorderseite und auch auf der Rückseite 40 Liter Luft durchlassen. Dadurch konnte ich als wenig Sprungkräftiger meine gute Technik ausspielen.
Und dann spielen noch ziemlich windige Einflüsse mit, die keiner kontrollieren kann: der Wind. Wegen der unberechenbaren Windverhältnisse ist kaum eine Sportart dem Zufall so ausgeliefert wie die Freiluftdisziplin Skispringen. Turbulenter Wind kann einen Wettkampf auf den Kopf stellen, auch wenn der Windfaktor inzwischen in die Wertung so gut es geht eingerechnet wird. Aber Skispringer müssen wohl akzeptieren, »dass der Wind einen eigenen Willen hat«, wie es mal eine Romanfigur von Carlos Castaneda ausdrückte.
Rückenwind drückt von oben auf den Springer, verringert dadurch die Höhe der Flugkurve – du springst kürzer. Bei Gegenwind, also »Aufwind«, wird das Luftpolster größer – du machst zusätzliche Meter. Ob du vom Schanzentisch in eine Aufwindböe hineinspringst und dann hochgesaugt wirst oder Rückwind erwischst und keinen Druck unter den Skiern findest – das macht schnell mal 10 bis 15 Meter aus.
Viele V-Springer, besonders die ganz leichten, fürchten sich bei ihren aerodynamisch verlängerten Flügen vor dem Wind, mehr als früher. Ist ja klar, warum: Einen Smart pustet es leichter von der Autobahn als einen dicken Mercedes der S-Klasse. Allerdings wurde auch deutlich: Der V-Stil begünstigt besonders leichte Springer.
Ein atemberaubendes Bild – aber während des Sprungs kann ich die Zuschauer gar nicht sehen.
Die Sprungkraft als entscheidender Faktor
Es ist
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