Mein irisches Tagebuch
Halls. Dazu zahlreiche Fälle von punishment beating, häufiger durch die IRA als durch die protestantischen Paramilitärs. Auch die furchtbaren Bilder, denen ich noch nachgehen werde - gebrochene Glieder, tiefe Messerschnitte, zertrümmerte Knochen, die Opfer nicht zu Tode gebracht, aber für das ganze weitere Leben gezeichnet und verstümmelt.
Dann entdecke ich mich dabei, wie ich denke:grausig, entsetzlich, aber wenigstens nicht wieder Bomben, nicht wieder zerrissene Menschen, zerrissene Autos, zerrissene Häuser. Aber gleich dahinter dann auch: Was, um Himmels willen, macht die unmittelbare Nachbarschaft des Konflikts mit einem? Zu welchen Relativierungen verfuhrt ihre Nähe? Welche Meßmodelle werden hier aneinandergehalten?
Was geschieht hier mit dir?
Eine Stunde später sitze ich am Rand des Springbrunnens im Parterre des Castle Court Centre an der Royal Avenue. Der gigantische Verkaufstempel ist angenehm klimatisiert. Nach dem ungewöhnlich kalten Winter soll dieser Sommer der heißeste seit hundert Jahren sein - alle schlecken hier an dem vorzüglichen Eis. In der großen Halle setzt ein Vater seine beiden Kinder, fünf-, sechsjährige Jungen, auf die Holzpferde eines Karussells, steckt zwanzig Pence in einen Schlitz und begleitet die Rundfahrt mit griffbereiten Armen. Dann hebt er die Kleinen vom Pferd, nimmt beide, in den Knien etwas eingeknickt, an die Hand, und strebt eilig dem Ausgang zu.
Was denkt dieser Mann? Welche Gedanken gehen den Menschen hier durch den Kopf, nachdem die vielmonatige Waffenruhe eine so sichtliche Entspannung mit sich gebracht hatte? Alle wissen doch von den Zusammenstößen der letzten Tage und auch wieder der vergangenen Nacht.
Äußerlich scheint es keinen Unterschied zu der Zeit vor den neuen Unruhen seit Anfang des Monats zu geben, aber stimmt dieser Eindruck, entspricht er der inneren Wirklichkeit? Ich wünschte, ich könnte ihnen ins Herz schauen, den Frauen, Mädchen, Männern, hier drinnen im Erdgeschoß des Castle Court Center, die da herumschwirren und -wirren, schauen und kaufen, und denen da draußen auf der Rosemerry Street, dem Wellington Place, der Grosvenor Road. Wie sieht es aus in all den Müttern, die mir auf dem Weg zur City Hall entgegenkommen, ihre Kleinen neben sich oder in den typischen hochräderigen Kinderwagen? In den jugendlichen Verkäuferinnen, deren glatte Gesichter ich durch die Schaufenster sehe und die lächeln, wenn die Blicke sich begegnen? Oder in jenen Teenagern, die am Donegall Place bunte Bänder verkaufen, die sie dann kunstvoll in die Haare ihrer Kundinnen einflechten?
Ich setze mich auf den Sockel der Queen-Victoria-Statue vor der City Hall.
Ein kleines Mädchen in einem knöchellangen blauen Rock drückt an der Ampel auf einen Knopf, um auf die andere Seite des Donegall Square North zu kommen. Und dann eilt alles bei Grün hinüber, geschäftig, zielstrebig, keine Zeit.
Das sieht nach normalem, nach gewöhnlichem Leben aus. Aber ist es tatsächlich das gleiche wie sonst? Ist das Zutrauen in die Waffenruhe erschüttert? Hier in Belfast, wo es unzählige
Anschläge gegeben hat, wissen jedenfalls alle, was auf dem Spiel steht.
Während ich das noch denke, segeln zwei wunderschöne Exemplare der Taubenkolonie Belfast-City quer durch die Luft und setzen sich tappend und völlig bewußdos für die Probleme dieser seltsamen Zweibeiner da unten auf die weißbeklecksten Dachsimse von Robinson & Cleaver Ltd.
Ich muß hier raus, raus aus Belfast, wenigstens für einen Tag, sonst werde ich von diesem Konflikt und seinen Ungewißheiten noch aufgefressen.
Zwischen Omphalos und Checkpoint
Über Nordirland glüht eine afrikanische Sonne, das Land liegt unter einer Hitzeglocke sondergleichen - schon ist Wassermangel angesagt. Das Grün der Landschaft, so lange versengt, ist dunkler als üblich zu dieser Jahreszeit, fast gebräunt. Hätte mein alter Ford doch nur eine Klimaanlage.
Ich bin auf dem Weg nach Mooshof, einem Ort westlich von Belfast, schon im County Londonderry, real und imaginär:
»Ich weiß nicht, wie alt ich war, als ich mich auf einem Feld hinter dem Haus im Erbsenbeet verirrte, doch für mich ist es ein halber Traum; so oft habe ich davon gehört, daß ich mir das Ganze womöglich nur einbilde. Inzwischen aber habe ich es mir schon so oft und so lange eingebildet, daß ich weiß, wie es war: ein grünes Gespinst, eine Haube geäderten Lichts, ein Gewirr von Stangen und Stengeln, Schoten und Ranken, voller
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