Mein irisches Tagebuch
beschwichdgtem Erd- und Laubgeruch, ein sonnenbeschienenes Lager. Ich sitze da, als sei ich soeben aus meinem Winterschlaf erwacht; erst allmählich dringen Stimmen an mein Ohr, sie kommen näher und näher und rufen meinen Namen, und ohne jeden Grund fange ich an zu weinen.«
Der diesen frühen Ausschnitt seines Daseins in so wundervoller Prosa beschrieb, ist der legitime Nachfolger von William Butler Yeats, der Erneuerer des irischen Naturgedichts ,poeta laureatus der Universität Oxford, Nobelpreisträger für Literatur 1995 und Katholik bäuerlicher Herkunft - Seamus Heaney, Irlands größter Lyriker.
Ich bin auf dem Weg zu seinem Omphalos, dem Nabel der jungen Jahre, in der Nähe des Lough Begh bei Castledawson: »Mooshof, der erste Ort meiner Kindheit, weitete sich. Da gab es einen sandigen Pfad zwischen alten Hecken, den wir Sandy Loaning nannten. Er führte von der Straße ab, zunächst an den Feldern endang und dann durch ein kleines Torfmoor zu einem abgelegenen Gehöft. Eine seidig duftende Welt. Die ersten paar hundert Meter fühlte man sich noch einigermaßen sicher. Der Weg war von Erdböschungen begrenzt, die mit Ginster und Farnen bewachsen und mit Moos und Schlüsselblumen gepolstert waren. Hinter dem Ginster, im fetten Gras, wiederkäute besänftigend das Vieh. Zuweilen brach ein Kaninchen aus seiner Deckung hervor und hoppelte, trockenen Sand aufwirbelnd, vor einem her. Es gab Zaunkönige und Goldfinken.«
Vor Cookstown in Richtung Coleraine sehe ich eine Erhebung, einen Erdbuckel, der eigentlich ein großer Hügel ist, nicht mehr, aber von Heaneys Omphalos aus war er der Orientierungspunkt gegen Westen:
»Slieve Gallon ist ein kleiner Berg, der den Blick auf Wiesen-und Ackerland, auf die fernen Wälder des Moyola Park, auf Grove Hill und Back Park und Castledawson freigibt. Dieser Teil der Landschaft war bevölkert, war die Scholle einer Gemeinschaft, das Land des Heuschobers und des Garbenhaufens, von Zaun und Gatter, Milchkannen am Ende des Feldweges und Auktionsanschlägen an Torpfosten. Auf einem Hof nach dem anderen schlugen Hunde an. Am Straßenrand standen Tennen gähnend weit offen, prall gefüllt mit Futter.«
Im Osten, vom Mooshof aus gesehen, träumt ein kleiner See vor sich hin, der »der Einbildungskraft des Knaben nach der anderen Seite Grenzen setzte« - Lough Begh.
Den versuche ich jetzt zu erreichen, denn in seiner Mitte liegt Church Island, aus deren Eiben eine Kirchturmspitze ragt, »das Mekka der Umgebung«, wo im Hof Mädesüß und Wiesenkerbel schulterhoch gestanden haben und - so berichtet Heaney - der Heilige Patrick vor 1500Jahren lange gebetet und gefastet haben soll.
Den See unsichtbar immer rechts, geht es durch Wald und heckengesäumte Weiden, vorbei an Rinderherden und versteckten Häusern, eine Landschaft, die sich nicht geändert zu haben scheint, seit der am 13. April 1939 geborene Seamus Heaney dort sein Paradies gefunden hatte:
»Das Licht, das auf den Untiefen des Moyolaflusses tanzt, auf dem grünblauen Strudel flimmert. Das Licht über der fernen Turmspitze von Magherafelt. Das Licht, das die Hasenglöckchen auf Grove Hill verströmen. Und die zitternde Luft hallt wider von kraftvoller Musik. Aus einem Betsaal trägt ein Sommerabend Klänge inbrünstig schwermütigen Choralgesangs über die Felder herüber, der Hagedorn blüht, und die weichen, weißen Hostienfelder des Holunders hängen schmerzlich in den Hecken.«
Ich versuche, an den See heranzukommen, doch will mir das nicht gelingen. Auf dem Weg nach Bellaghy nichts als Zäune, die Gatter dazwischen sämtlich geschlossen. Aber nicht aufgeben.
Seamus Heaney hatte mich von der ersten Zeile seiner Lektüre an verzaubert - in Deutsch die »Ausgewählten Gedichte 1965 bis 1975«, »Die Hagebuttenlaterne«, der Essayband »Die Herrschaft der Sprache«. Auf englisch »Wintering out«, »Preoccupations« und »North«.
Lebenslauf und Persönlichkeit haben mich seit der ersten literarischen Begegnung fasziniert und nicht mehr losgelassen: Ein »Kind vom Lande«, phantasievoll, emotional; mäßiger Schüler, aber glänzender Student an der Belfaster Queen’s University für englische Literatur; dann Lehrer an Oberschulen und Universitäten. Mit Gastdozenturen an amerikanischen Universitäten, so im kalifornischen Berkeley, und Vortragsreisen wird der regionale und nationale Rahmen gesprengt, Weitläufigkeit gesucht und gefunden. Das Leben - Dichtung, von allem Anfang an.
Seine Kraft bezieht Heaneys
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