Mein irisches Tagebuch
Einschüchterung«) ist schmal und unscheinbar, aber dahinter tut sich, der Name mag es schon ankündigen, die ganze Tragödie des nordirischen Konflikts auf.
Hierher kommen seine Opfer, katholische und protestantische, Väter, Mütter, Brüder, Schwestern der Opfer, junge und alte, zerstört und gebrochen oder kampffreudig und widerstandswillig, jeden Tag sprechen hier die einen und die anderen vor. Empfangen werden sie von Nancy Gracey, Inspiratorin, Gründerin und Leiterin der Organisation, eine dieser Frauen, deren Zähigkeit und Pflichtgefühl stets aufs neue über ihre angeborene Empfindsamkeit siegen müssen, um das begonnene Werk fortzuführen, die tagtägliche Begegnung mit den Zeugnissen körperlicher und seelischer Versehrungen, den mannigfachen Ausgeburten des unersätdichen Kraken Gewalt.
Nancy Gracey stellt einen Frauentypus dar, wie er mir auch in anderen Ländern, mit ähnlichen Problemen und ähnlichen Organisationen, begegnet ist, nicht zuletzt bei amnesty international - von imponierender Ausdauer in einem Geschäft, das mehr mit Verzweiflung und Furcht zu tun hat als mit jedem anderen Zustand menschlichen Seins.
Sie führt mich zu Jack P.
Er ist 55, Protestant und Vater eines 31jährigen Sohnes, der seit drei Jahren versteckt leben muß. Hier Stationen in eine Illegalität, von der der Vater furchtet, sie werde ein Leben lang andauern.
Noel P. hatte eine Freundin, deren Familie ebenfalls protestantisch war, aber gegen die Verbindung Einwände hatte, weil Noel keine Heiratsabsichten äußerte. Darüber gab es Streit und Schlägereien mit dem Vater des Mädchens. Als die Beziehung andauerte, kamen Drohungen hinzu, diejack P. mehr beunruhigten als den Sohn. »Es war bekannt, daß die Familie des Mädchens enge Beziehungen hatte zu protestantischen Untergrundorganisationen, darunter die Ulster Volunteers Forces, die besonders rücksichtslos gegen eigene Leute vorgehen. Ich hatte Angst um meinen Sohn, große Angst.«
Wie berechtigt sie war, zeigte sich wenig später.
Eines Abends, als Noel in der Shankill Road, wo die Familie P. wohnte, Bier holen wollte, sah er sich plötzlich umstellt von maskierten Männern mit Schußwaffen und Messern in den Händen. »Der gun man setzte eine Pistole an Noels Kopf und drückte ab. Aber die Patrone explodierte nicht - es war reiner Zufall.«
Noel P. nutzte die Verwirrung, warf die Bierdosen weg und floh. Es gelang ihm, einen Wagen anzuhalten, mit dem er sofort zur Polizei fuhr. Die rief den Vater an, und der kam sofort, um seinen Sohn abzuholen. »Noel zitterte wie ein Kind«, Jack P. macht das nach und schüttelt sich dabei am ganzen Leib.
Er sitzt da vor mir in Arme-Leute-Kluft, gelber Jacke, roter Hose, an den Füßen Sandalen. Sein Gesicht ist zerfurcht wie bei einem Menschen, der seit langem schlecht schläft, weil er innerlich nicht zur Ruhe kommt.
Von dem Tag der Attacke an, also seit drei Jahren, lebt Noel P. im Untergrund, versteckt vor den Häschern der UVF, zunächst bei Freunden in Belfast. Als ein Inspektor den Vater warnte, daß die paramilitärischen Loyalisten nach ihren Bekundungen den Sohn töten wollten, sobald sie seiner habhaft würden, wurde Noel P. in das englische Manchester gebracht.
»Was hat mein Sohn denn getan?« fragtjack P. jetzt, so eindringlich, als könnte ich ihm antworten. »Es waren doch häusliche, familiäre Probleme, um die es ging, doch nicht um etwas ernsthaft Politisches - wenn es das noch gewesen wäre. Überhaupt wäre das ganze Problem nicht da, wenn die Familie des Mädchens keine Verbindung zu der Untergrundorganisation gehabt hätte. So aber hat Noel seine Wohnung verloren, ist in psychiatrischer Behandlung und für uns nur noch eine Stimme am Telefon.«
Gesehen haben Noels Eltern und die vier Geschwister, drei Brüder, eine Schwester, ihn nur noch einmal - bei einem dramatischen Fernsehauftritt zu Weihnachten 1994 vor der Belfaster City Hall.
Noel P. war unter konspirativen Umständen nach Ulster gebracht worden, niemand außer den Organisatoren wußte, wo er war, auch die Eltern und Geschwister nicht.
Nachdem er dann im Herzen der Stadt unter einem großen Tannenbaum vor laufender Kamera seinen Fall in bewegten Worten geschildert und die Aufhebung des Todesurteils gegen ihn gefordert hatte, gab es zwischen ihm und den Eltern eine kurze Zusammenkunft an einem geheimen Ort.
An diesem Punkt seines Berichts angelangt, wendet Jack P. sich ab. Ich sehe, wie sich seine Zehen unter den Strümpfen in den
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