Mein irisches Tagebuch
offenen Sandalen krümmen.
Nach dem Fernsehauftritt hat er um eine Zusammenkunft mit dem politischen Flügel der Ulster Volunteers Forces ersucht und sie auch bekommen. Dort wurde ihm zunächst erklärt, daß sein Sohn nicht zurückkehren könne, ohne Gefahr zu laufen, umgebracht zu werden. Einige Tage später aber holten ihn dieselben Leute zu sich und versicherten, daß alles getan werde, um das »Problem« gütlich beizulegen.
»Das ist jetzt auch wieder sieben Monate her«, sagtjack P., und macht eine Gebärde der Hoffnungslosigkeit - er breitet die Arme aus und läßt sich nach hinten auf die Couch fallen.
Im Nebenzimmer treffe ich einen Angestellten der Organisation gegen Terror und Einschüchterung, Seamus McK., 45, auch er Protestant.
Hier geht es um die Mutter seiner Frau, Jean McC. - von der IRA verschleppt, ist sie seit Dezember 1972 verschwunden. »Meine Frau Helen und ich wissen natürlich, daß sie nicht mehr lebt. Aber wir werden uns damit nicht zufriedengeben und hoffen, daß der Waffenstillstand helfen wird, den Fall aufzuklären.«
Seamus McK. gibt seinen Bericht mit leiser Stimme und einem unbeirrbaren Ausdruck im Gesicht.
Jean McC., Protestantin, hatte einen Katholiken geheiratet, einen britischen Soldaten, der nach achtzehn Jahren Ehe im Herbst 1972 an Lungenkrebs starb. Unter dem Druck der Umstände, sie allein mit zehn Kindern, war die Frau zusammengebrochen und kam in ein Krankenhaus. »Kurz nach ihrer Entlassung«, fährt Seamus McK. fort, »gab es einen Zusammenstoß zwischen katholischen Provos und einer Armee-Einheit, bei dem ein britischer Soldat erschossen wurde. Jean, die zufällig Zeugin der Szene geworden war, kniete nieder und betete für die Seele des Getöteten. Am nächsten Tag war die Wohnungstür der Familie übersät mit Graffiti, die alle das gleiche schrien: >British bastards<.«
Und dann kamen sie, acht Männer und vier Frauen der IRA, maskiert und in Waffen. Jean McC. war gerade im Badezimmer und hatte nur einen Hausmantel um. Aber es wurde ihr nicht erlaubt, sich anzuziehen. »So, wie sie war, wurde sie ins Auto gesteckt und nie mehr wiedergesehen.«
Nachdem die Mutter verschleppt worden war, versteckte Helen, mit fünfzehn das älteste der Kinder, sich und ihre Geschwister nachts unterm Bett, so lange sie noch gemeinsam in der Wohnung waren.
Aber bald wurde die aufgelöst und die Waisen in ein Heim gesteckt, bis auf Helen, heute die Frau von Seamus McK.
»Sie besuchte ihre Geschwister in dem Waisenhaus, in dem ich damals arbeitete. So haben wir uns kennengelernt und geheiratet. Wir haben fünf Kinder.«
Noch heute hat seine Frau einen Schreckenstraum, der immer wiederkehrt und aus dem sie jedesmal schweißgebadet und erschöpft erwacht: Die IRA bricht die Haustür auf, poltert ins Zimmer und zerrt ihre Geschwister und sie unter den Betten hervor. Sechs Wochen nach der Tat waren ihr der Ehering und das Portemonnaie der Verschleppten von einem Mann zurückgebracht worden. Als sie ihn fragte, wo die Mutter sei, war seine Antwort: Er wisse von nichts, sondern habe nur die Aufgabe, Ring und Geld zurückzubringen.
»Ich versuche zusammen mit meiner Frau seit über zwanzig Jahren herauszubekommen, wo Jean McC., meine Schwiegermutter, die ich nie kennengelernt habe,geblieben ist-vergebens. Die haben nur geschrien: >Hau ab, sonst...< und dabei unmißverständliche Bewegungen gemacht. Später hat uns ein IRA-Mann, der selbst nicht dabeigewesen sein wollte, gesagt: Sie sei in einem Plastikbeutel erstickt worden. Und das, weil sie es nicht bereut hätte, an der Seite des erschossenen britischen Soldaten niedergekniet zu sein und für ihn gebetet zu haben. Sie sei halsstarrig gewesen. Darum mußte sie sterben.«
An den Wänden des Hauptraums der Organisation Against Terror and Intimidation hängen Fotos, die so furchtbar sind, daß es größter Überwindung bedarf, sie sich anzuschauen: Bilder von punishment beatings, eine an Zynismus nicht mehr zu überbietende und von den Tätern erfundene Worthülse, die verschleiert, was die selbsternannten Richter unter »nichtmilitärischer Gewalt« verstehen. Menschen werden mit dem Rücken auf ein Gitter oder einen Zaun gelegt, wo ihnen die Beine mit Schlagkeulen (baseball bats) oder Eisenstangen (iron bars) zertrümmert werden.
Damit ist die Phantasie der Menschheitsbeglücker im Namen des irischen Katholizismus oder des nordirischen Protestantismus aber noch keineswegs erschöpft. Ich sehe Fotos, auf denen Opfer ihre
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