Mein irisches Tagebuch
durchschossenen Unterschenkel zeigen, Einschüsse in Großaufnahme, in Knien und in Knöcheln - Menschen, die nie wieder gehen können, Krüppel fürs ganze Leben.
Und auch danach noch gebietet die Gewalt über ihr Opfer.
Ein Foto des »Belfast Telegraph« zeigt einen jungen Mann, der so übel zugerichtet ist, daß sein Körper wie ein einziger Verband aussieht: »Shooting victim Simon Murray recovers from a gun attack.«
Irrtum, der Mann wird sich niemals wieder von dieser IRA-Attacke erholen, er wird niemals wieder seinen rechten und seinen linken Arm gebrauchen können, wofür sie von der Natur geschaffen worden sind. Aber gefragt, ob es die IRA war, die seinen Kopf in die Karikatur eines normalen Menschenhaupts verwandelt hat, verweigert der 21jährige jede Antwort.
Das Gesicht, das Nancy Gracey vor der Wand macht, kenne ich auch - es demonstriert, daß es an solche Bilder keine Gewöhnung geben kann. »Seit dem Waffenstillstand vom 31. August 1994 hat es 103 punishment beatings durch die IRA und 63 durch die protestantischen Paramilitärs gegeben. Sie geben einander kaum was nach, so, wie auch die Gründe beider Seiten verlogen sind, vor allem da, wo sie gegen Drogendealer vorzugehen vorgeben. Ganz abgesehen davon, daß die IRA und die Ulsterprovos selbst in die Drogenszene verstrickt sind - meist setzen sie nur die Kleinen, Abhängigen, die untersten Glieder in der Drogenkette matt, mit hurley sticks und baseball bats.«
Und dann sagt Nancy Gracey, Gründerin und Leiterin der Organisation Against Terror and Intimidation, einen Satz, der mir nicht aus dem Sinn geht, längst, nachdem ich das Washington House, Belfast, High Street 18, verlassen hatte.
»Die Wahrheit ist, daß die Menschen hier so lange mit der Gewalt gelebt haben, daß viele von ihnen ohne sie nicht aus-kommen. Wenn schon nicht mehr Massenmord mit Bomben, keine tödlichen gun attacks, dann eben gebrochene Knochen, zerschossene Gelenke, eingeschlagene Köpfe.
Es ist wie eine Droge.«
An dieser Stelle derNiederschrift des Buches, wenige Tage nach den schweren Bombenanschlägen der IRA in London, erreicht mich die Nachricht, daß zwischen der britischen und der irischen Regierung Gespräche eröffnet worden sind, deren Ziel es ist, in Ulster zu politischen Verhandlungen mit allen demokratischen Parteien zu kommen. Was eine mehr oder weniger latente Umschreibung der All Party Talks ist, die seit langem von republikanischer Seite gefordert wird. Aber die Sache zeigt noch verschiedene Pferdefüße. Die Führer der größten protestantischen Partei Nordirlands sind vorerst nicht gekommen, weil sich der Dubliner Außenminister am Ort des Gesprächs auflält, und Sinn Fein war gar nicht erst eingeladen worden, weil der Bruch des Waffenstillstands durch die IRA nicht widerrufen worden sei. Als Sinn-Fein-Präsident Gerry Adams dennoch erschien, wurde er abgewiesen. Aber die Gesten sind moderater geworden, die Stimmen gedämpfter, der Wille, ein neues Kapitel in der Geschichte des nordirischen Konflikts aufzuschlagen, offenbar doch angestachelt.
Was immer bei diesen Gesprächen herauskommen mag oder nicht -wäre es ohne die Bomben von London auch nur zu diesem Vorgespräch gekommen? Hätte die britische Regierung sich ohne die Detonationen an den London Docks und in Aldwych überhaupt bewegt? Oder einfach, was sehr viel wahrscheinlicher ist, ihr Schildkrötentempo fortgesetzt in einer Angelegenheit, die nach gütlicher Lösung förmlich schreit?
Und auch das noch einmal: Nichts entschuldigt heimlich gezündete, gegen das Leben ahnungsloser Menschen gerichtete Bomben, gar nichts. Doch die Verantwortung für absichtsvoll verpaßte Chancen durch schleppende Verhandlungen angesichts eines so grausamen Kriegs wie hier in Nordirland mit 3500 Toten und noch mehr Verletzten - die Verantwortung dafür ruht nicht auf einer, sie ruht auf mehreren Schultern.
Der neue Terror ist ein betäubender Schlag. Aber erst, wenn sich herausstellte, daß Gewalt tatsächlich die Ultima ratio aller Bewegung ist, auch der dem Licht zu, erst dann ließe ich die Hoffnung fahren auf Vernunft, auf Liebe und auf Frieden - erst dann.
Nicht jetzt!
Aber die RUC müßte verschwinden
In der Bogside von Londonderry (das auch sie nie anders als Derry bezeichnen würde) besuche ich Judith D.
Sie ist das, was man eine unscheinbare Person zu nennen pflegt, aber von jener Sorte, die sich in einen anderen Menschen zu verwandeln scheint, wenn sie spricht. Ihr Gesicht
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